Funkstation
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Es war mein Großvater, der die Villa mit dem wunderschönen Turm in ziemlich marodem Zustand gekauft hat. Damals hat die gesamte Familie zusammen geholfen, um sie zu restaurieren. Die Erzählung geht, dass sich mein Vater in das Zimmerchen direkt unter der Turmspitze verliebt hätte.
Obwohl ich nie mit meinem Vater darüber gesprochen habe, sehe ich es anders. Er hat sich wohl weniger in das Turmzimmer verliebt, sondern vielmehr in meine Mutter. Die war nämlich bei seinen Eltern nicht so gern gesehen. Deshalb hat er ein großes französisches Bett ins Turmzimmer geschleppt, das auch heute noch dort steht und das Zimmer fast vollständig ausfüllt. Das war das geheime Liebesnest, in dem wahrscheinlich auch ich gezeugt wurde.
Nach der Hochzeit war meine Mutter im Hause akzeptiert, und das Turmzimmer hat seine ursprüngliche Bedeutung verloren. Nachdem die Liebe etwas abgekühlt war, hat sich mein Vater dem Amateurfunk gewidmet. Das Turmzimmer war der ideale Ort für eine Funkstation, möglichst nah an der Antenne, die außen am Turm angebracht war. In jungen Jahren habe ich oft daneben gesessen, wenn mein Vater sich mit Freunden rund um den Globus unterhalten hat. Ich lernte sogar, mit der Station umzugehen.
Mein Vater ist vor einigen Jahren gestorben, aber Funkstation und Antenne gibt es noch. Und sie funktioniert auch noch. Zum Test setze ich sie manchmal kurz in Betrieb, obwohl ich es ohne Funklizenz nicht dürfte.
Vor einiger Zeit hatten wir ein furchtbares Unwetter. Der Strom war im ganzen Ort ausgefallen. Wie zu erwarten, funktionierten weder Internet, Telefon, noch Mobilfunknetz. In unserem Haus brannte als einzigem weit und breit noch Licht, weil es von einer Notstrommaschine halbwegs versorgt wurde, die mein Vater in weiser Voraussicht angeschafft hatte.
Plötzlich läutete es an der Tür, und unsere Nachbarin stand völlig aufgelöst vor der Tür. Ihr Mann lag schwer verletzt im Garten, weil ihn ein im Sturm heruntergefallener Dachziegel getroffen hatte. Er benötigte dringend Hilfe, aber es gab für sie keine Möglichkeit Hilfe zu rufen.
Natürlich dachte ich sofort an Vaters alte Funkstation. In einem echten Notfall würde mir wohl niemand verbieten, sie zu benutzen. Wie aber müsste ich vorgehen? Mir fiel nichts Besseres ein, als Notrufe über willkürlich ausgewählte Kurzwellenfrequenzen auszusenden. In der Hoffnung, dass jemand aus einer Nachbargemeinde mit Strom und funktionierendem Telefonanschluss ihn empfängt und weiterleitet.
Es funktionierte besser als erhofft. Bereits der dritte Versuch war erfolgreich. Ein Funkamateur aus der nächsten Stadt empfing meinen Notruf und reichte ihn an die für uns zuständige Leitstelle weiter. Es dauerte nur eine Viertelstunde, bis der Krankenwagen vor der Tür stand.