DerSagenumwobeneKelchderKotze259
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»Auch das Erbrechen ist früher schon erwähnt worden. Mag es eine unschuldige krankhafte Affektion, mag es Folge der Völlerei sein, immer ist es höchst ekelhaft. Dennoch haben Poesie wie Malerei es dargestellt. Die Malerei kann es durch die bloße Stellung andeuten, obwohl Holbein im 'Totentanz' sich nicht geniert hat, den Schlemmer ganz im Vordergrund den genossenen Fraß wieder ausspeien zu lassen. In ihren Jahrmarkt- und Wirtshausszenen sind auch die Niederländer nicht blöde damit gewesen. Über die Zulässigkeit solcher widrigen Züge wird es sehr auf die übrigen Seiten der Komposition und auf den Stil ankommen, in welchem sie gehalten ist, denn selbst eine komische Wendung ist möglich, wie in Hogarths 'Punschgesellschaft' oder in jenem Gemälde einer griechischen Vase, wo Homer, auf ein Polsterbett hingestreckt, sich in ein am Boden stehendes Gefäß erbricht. Eine weibliche Gestalt, die Poesie, hält ihm das göttliche Haupt. Um das Gefäß herum stehen eine Menge Zwergfiguren, die eifrig das Ausgebrochene wieder zum Munde führen. Es sind die spätern griechischen Dichter, die von dem zynisch weggeworfenen Überfluß des großen Poeten sich ernähren. Auch eine Apotheose Homers! Geht die Poesie aber so weit, daß sie vom Erbrechen nicht bloß erzählt, vielmehr es auf die Bühne bringt, so ist das ein Überschreiten des ästhetischen Maßes. das auch komisch nicht wirken kann. Hiermit hat es Hebbel in seinem 'Diamanten' versehen. Der Jude, der ihn verschluckt hat, bricht ihn auf der Bühne wieder aus, und nicht nur bricht er ihn aus, sondern er steckt sogar deshalb den Finger in den Mund. Das ist zu widrig! Die Geburt hat als ein notwendiger Naturakt nicht dies Abstoßende, selbst wenn sie nicht, wie in Hans Sachs' 'Narrenschneiden' und in Prutz' 'Politischer Wochenstube', komisch gewendet wird.«
Karl Rosenkranz, 'Ästhetik des Häßlichen'
ND Leipzig 1990, S. 258-259