Anmutung
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Die unverschämte Mieterhöhung, Ärger mit nörgelnden Kunden im Geschäft, ein konstant mißgelaunter Chef, meine kaputte Waschmaschine ... Als hätte mir mein Alltag zuletzt nicht schon genug Zumutungen beschert, mußte mir vor ein paar Tagen auch noch die Geschichte mit dieser Frau passieren. Nach Feierabend hatte ich wenig Lust verspürt, gleich nach Hause zu gehen, und so lief ich ziellos durch die Altstadt. Ich war vor dem Postkartenladen am Augustinerplatz stehengeblieben und betrachtete dort ohne rechtes Interesse einen Drehständer mit Cartoonmotiven, als eine Frau neben mich trat. Ich merkte schnell, daß etwas nicht stimmte: ja, sie schaute nicht die Postkarten an, sondern mich. Sie stand ganz nahe neben mir, und als ich mich ihr zuwandte, blickte ich in ein ungewöhnlich hübsches Gesicht mit leuchtenden Augen und einem Lächeln, das ohne Zweifel mir galt. Mein erster Gedanke war, daß sie mich mit jemandem verwechseln mußte. Doch bevor ich sie fragen konnte, ob wir uns kennen, sagte die Frau ganz ruhig: »Es ist mir völlig egal, was du von mir denkst.« Eine Verrückte, also. Ihr Lächeln hatte jetzt etwas Herausforderndes, und in ihren zugegebenermaßen verwirrend aparten Augen lag, wie mir schien, ein Glanz von Triumph. Sie hatte mich einfach geduzt, war das nicht eine Unverschämtheit? Wenn es darauf ankommt, läßt mich meine Schlagfertigkeit allerdings immer im Stich. »Mir ist es auch egal, ich kenne dich ja gar nicht«, war alles, was mir als Erwiderung einfiel. Schließlich gab ich ihr mit dem Handrücken einen sanften Klaps auf den Oberarm, wie um dem Ganzen den Anschein eines Scherzes zu geben. Immer noch lächelnd, aber ohne etwas zu antworten, trat die Frau den Weg über den kopfsteingepflasterten Platz an. Verdutzt blickte ich ihr nach. Als sie den Platz fast überquert hatte, drehte sie sich noch einmal kurz nach mir um, aber ich konnte in der Abenddämmerung nicht mehr erkennen, ob sie noch lächelte.
Am nächsten Morgen mußte ich nach dem Erwachen als erstes gleich an diese leuchtenden Augen denken. Warum hatte die wunderschöne Frau sich ausgerechnet mich als Objekt ihres irritierenden Lächelns ausgesucht? Ich blieb noch eine Weile im Bett liegen und überlegte, welche passendere Antwort ich ihr hätte geben sollen. Hätte ich sagen sollen: »Komm, ich lade dich ins Café ein. Vielleicht kann ich anschließend sagen, was ich von dir halte, auch wenn dir das egal ist«? Aber dazu ist es nun zu spät. Jetzt muß ich mit dem Rätsel dieser Frau leben. Wenigstens verstand ich endlich, daß es sich bei dem Erlebnis nicht um eine Zu- sondern um eine Anmutung gehandelt hatte. Aber auch das bleibt letztlich eine Vermutung.
(Zumutung, Anmutung, Vermutung: immerhin ermöglichte mir die Frau, eine Geschichte zu erzählen, in der diese drei Wörter vorkommen. Aber ist das ein Trost?)