Daß das »Theater der Unterdrückten« auch für Europa Bedeutung hat, wo Boal seit I976 lebt, belegen in unserer Textauswahl die jüngsten Erfahrungsberichte von seiner Tätigkeit in Portugal, Schweden, Frankreich und Italien.
In Brasilien spielt man nach wie vor Musicals, das Teatro de Arena wurde längst umbenannt. »Das Erstaunlichste am brasilianischen Theater ist, daß es Oberhaupt noch existiert« (Fernando Peixoto). Doch mitunter gibt es rnerkwürdige Überraschungen: Am 4. Oktober I978 brachte das TAIB als brasilianische Erstaufführung Boals Stück über Eniigrantenschicksale, Murro ein Ponta da Faca, heraus. Die »Faust ins Gesicht« - oder kann sich Brasilien inzwischen Boals Einspruch als ein Kapitel der Theatergeschichte leisten? Dem »Theater der Unterdrückten« ist zu @nschen, daß es niemals als ein Kapitel Theatergeschichte miß-
verstanden werden möge.
I. Theater der Unterdrückten
in Lateinamerika
»ich habe einem Bauern gezeigt, wie man Pflug schreibt - und er hat mir beigebracht, wie man mit ihm umgeht.«
Ein argentinischer Alphabetisierer
Was ist V@lkstheater?
Es gibt zwei Theaterperspektiven. Theater ist für das Volk, wenn es die Welt aus der Perspektive des Volkes sieht, das heißt, in unaufhörlichem Wandel begriffen, mit allen Widersprüchen und der Bewegung dieser Widersprüche, wenn es die Wege zur Befreiung der Menschen zeigt. Diese Perspektive macht deutlich, daß Menschen, die durch Arbeit, Gewohnheiten, Traditionen versklavt wurden, ihre Situation ändern können. Alles befindet sich in Veränderung. Diese Veränderung gilt es voranzutreiben.
Die Perspektive des bourgeoisen Theaters dagegen beharrt darauf, daß die Menschen, am Ende ihres langen Weges durch die Geschichte, nunmehr die beste aller möglichen Welten erreicht
haben: das gegenwärtige System.
Auch in Ländern wie Brasilien gibt es professionelles Theater,
dessen Existenz vom bürgerächen Publikum und von staatlichen
Subventionen abhängt. Heißt das, daß dieses Theater dazu verurteilt ist, bürgerhches Theater zu sein, das die Interessen der Herrschenden vertritt?
Auch Theater vor dem Volk ist nicht selbstverständlich Theater für das Volk. In Wirklichkeit ist es oft Theater gegen das Volk. Man könnte einwenden: Wozu wird diese Art Theater praktiziert, wenn der Adressat nicht das Volk ist? Diese Frage, meist als Anklage formuliert, wird linken Theatergruppen gestellt, die Volkstheater für ein Publikum machen wollen, das für ein konventionelles Theater Eintritt bezahlt. Mit anderen Worten: Volkstheater für die Bourgeoisie wäre absurd.
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