io. Pointiertes Lesen
Ein Text enthüllt seine wahre Bedeutung, wenn er im Stil eines anderen Genres reproduziert oder kommentiert wird. Vom Staatsbegräbnis eines ermordeten Admirals wurde im Stil der Regenbogenpresse berichtet: Die Beerdigung selbst wurde nur kurz erwähnt, dann folgte eine ausführliche Beschreibung der Garderobe der Trauergemeinde. Eine ähnliche Wirkung erzielte die Reportage von einem Kinderbegräbnis in einem Elendsviertel mit einer detaillierten Beschreibung der aus diesem Anlaß von den Eltern beim Trödler erstandenen Trauerkleidung.
i i. Kontext-Lesen
Bei der Berichterstattung der Massenmedien werden nicht selten Einzelheiten hochstilisiert, die wahren Sachverhalte jedoch verniedlicht oder verschwiegen. Eine Sendereihe im argentinischen Fernsehen befaßt sich »kritisch« mit dem Leben in Buenos Aires. Das sieht so aus, daß z. B. ein Arzt, der eine Fehldiagnose gestellt hat, als Mörder eines Kindes aus dem Elendsviertel denunziert wird. »Darf so etwas in einer Stadt geschehen, die sich zivilisiert nennt?- fragte der Kommentator empört, während das Gesicht des Arztes in Großaufnahme auf dem Bildschirm erschien. Um die Bedeutung solcher Beschuldigungen ermessen zu können, muß man sie in den sozialen Kontext stellen, in dem das »Verbrechen« geschah. In kurzen szenischen Darstellungen werden Informationen nachgeliefert: über die Lebensbedingungen in den Slums, über die hohe Zahl von Kindern, die wegen fehlender ärztlicher Versorgung sterben, über die Arbeitsüberlastung eines Arztes, der, wie der »verantwortungslose Verbrecher- in der Reportage, seiner Pflicht bis zur physischen Erschöpfung nachkommt, wobei er die Armen meist noch kostenlos behandelt.
Unsichtbares Theater
Es wurde schon viel unternommen, um die erstarrten Theaterrituale zu zerbrechen, um die Mauern zwischen Publikum und
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Schauspielern niederzureißen. Freilich, ob nun das Publikum auf gefordert wird, auf die Bühne zu kommen und mitzutanzen wie in Hair, mit den Requisiten zu spielen wie in den Vorstellungen des »Great magic circus«, ob es mit den Akteuren in unmittelbaren, fast orgiastischen Kontakt tritt wie beim Living Theatre (Paradise now) - von wirklicher Gleichberechtigung kann in allen iesen Fällen keine Rede sein. Das Wort behält der Schauspieler, der den Zuschauer dann wieder ins Parkett schickt: »Nun ist's genug.« jeder hat seine Rolle, seinen vorbestimmten Platz.
Auch in der »Theatergeographie«, mit dem Bühnenbild, wurden zahlreiche Versuche gemacht, die örtliche Trennung zwischen Schauspieler und Publikum aufzuheben. Von der italienischen Bühne, die Spielfläche und Zuschauerraum streng scheidet, der elisabethanischen Bühne, die in den Zuschauerraum hineinragt, der japanischen Kabuki-Bühne, die rund um den Zuschauerraum verläuft, bis zur Rundbühne und sogar zur Verschmelzung von Bühne und Zuschauerraum reichen die Experimente. Dennoch blieb die Trennung zwischen Agierendem und Betrachtendem erhalten.
Anders das »Unsichtbare Theater«. Hier wissen die Zuschauer nicht, daß sie Zuschauer sind, und sind daher, gleichzeitig, auch Akteure. Sie agieren gleichberechtigt mit den Schauspielern, die ihnen nur eins voraushaben: Sie wissen, was gespielt wird. Zugleich werden die Schauspieler hier zu Zuschauern. Dieses Theater, das sich von seinen traditionellen Ritualen befreit, braucht nicht die Bühne als Schauplatz: jeder Schauplatz wird zur Bühne für die Dauer der Handlung.
Das Unsichtbare Theater darf nicht mit dem Happening verwechselt werden, das Chaos und Anarchie zum Prinzip erhebt. Es hat auch nicht mit dem Guerilla-Theater zu tun. Bei beiden ist von vornherein klar, daß es sich um Theater handelt, und es tritt sofort der alte Mechanismus in Kraft: die Scheidung in Zuschauer und Schauspieler. Der Zuschauer ist wie immer zur Handlungsunfähigkeit verurteilt.
Das Unsichtbare Theater geht von einem geschriebenen Text aus, einer festumrissenen Konfliktsituation. Es muß bis ins Detail genau vorbereitet werden, nicht nur, was die Szene selbst und das Zusammenspiel der Schauspieler betrifft, sondern auch hinsichtlich der möglichen Mitwirkung der »Zuschauer«. Die Schauspieler müssen darauf vorbereitet sein, alle denkbaren Stichworte der
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