Haschischprotokoll
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In Myslowitz
Benj[amin] sah während des Versuchs – er saß meist nur etwa zwei Schritt von mir entfernt – sehr verschieden aus. So wechselte z. B. die Form und die Vollheit seines Gesichts. Der Schnitt der Haare, seine Brille machten ihn bald streng, bald gemütlich. Während des Versuches wußte ich, daß er objektiv nicht so schnell wechseln konnte, aber der jeweilige Eindruck war so stark, daß er als der richtige hingenommen wurde.
Einmal war er ein Gymnasiast in einer kleinen östlichen Stadt. Er hatte ein hübsches kultiviertes Arbeitszimmer. Ich fragte mich, wo hat dieser junge Mann so viel Kultur her? Was wird sein Vater sein? Tuchhändler oder Getreidevertreter. In diesem Augenblick schien er mir unaufmerksam und ich bat ihn zu wiederholen. Sein Wiederholungsversuch schien mir sehr langsam und ich stellte ihn zur Rede. Ich sah in diesem Augenblick einen Sommernachmittag in der kleinen östlichen Stadt, sehr heiß, die Sonne lag auf den Feldern, vor der Stadt; und nachmittags im Gymnasium – ein Zeichen der kleinen Stadt oder der Vergangenheit: Wissenschaftlicher Unterricht am Nachmittag – sagte der Lehrer: »Also bitte beeilen Sie sich, so viel Zeit haben wir hier wirklich nicht.« Ich mußte lachen, da doch dieser heiße Sommernachmittag für das Zeithaben prädestiniert erschien und mir nichts einfiel,, was zu dieser Stunde noch in Myslowitz vorgehen möchte.
Ich glaube, ich erzählte dann noch, wie die Gymnasiasten ihren Pauker nachmachten. Mit jener schlichten Karikaturbegabung deutscher Schüler, maßlos übertreibend: »...Ich habe wirklich keine Zeit.«
Ernst Joel, Haschischprotokoll vom 11. Mai 1928
(Suhrkamp TB 21, S. 90–91)