Fensterbank
Bewertung: 5 Punkt(e)Ein Phänomen, das Menschen kennen, die wie ich in einer Siedlung aufgewachsen sind, wo sich so gut wie jeder kennt: die Menschen, die am Fenster hängen. Nicht immer sind es alte Leute. Man neigt irgendwann dazu, dieses Verhalten selbst anzunehmen. Ich kann mich an laue Sommerabende erinnern, an denen ich mir zusammen mit meiner Mutter ein Kissen geschnappt und auf die Fensterbank geworfen habe, und dann haben wir uns herausgelehnt und geschaut, wer die Strasse herauf und herunter lief. Nun wohne ich schon ein paar Jahre nicht mehr zuhause, aber ich möchte wetten, Frau H. aus dem obersten Stock hängt immer noch bei gutem Wetter täglich dort oben und sieht sich um. In meiner eigenen Wohnung habe ich sehr schöne, breite Fensterbänke. Im ersten Jahr habe ich dort Kissen verteilt und mich draufgesetzt, sozusagen ein modernes Pendant des Fensterbankhängers der Siedlungen. Panna, der Teenager von gegenüber, das Mädel, das eigentlich Anna heisst, hat früher, als sie noch keine Freunde hatte ausser dem viel jüngeren Mädel nebenan oft im Sommer auf der Fensterbank gesessen und den Jungs nachgepfiffen und sich dann versteckt. Sie zog sich gern um, und dann hat sie dort oben am Fenster alle paar Minuten andere Klamotten präsentiert. Aber alles ändert sich. Meine Mutter hängt nicht mehr im Sommer auf der Fensterbank herum, ich auch nicht, und selbst Panna, ich meine Anna, hat ein paar Freunde gefunden. Die Fensterbank ist aus unserem zentralen Leben verschwunden. Heute stehen da nur noch Blumen, und das ist auch nicht schlecht.