Erpresserbrief
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Zuerst zum Bahnhof Zoo.
Schon am Eingang Seite Gedächtniskirche standen die Stricher.
Dann gab es die Bierkneipe unten, in die man von draußen
und von drinnen, von der Wandelhalle her, reinsehen konnte.
Gelegentlich gingen Ägypter durch.
Vor allem aber die Klappe hinten
Von da trödelte man zum Postamt oder wieder raus
und am Museum des XX. Jahrhunderts entlang.
Viereckige Arkaden
Ich ging mit einem Ägypter am Tiergarten längs, die Senke
hinunter am Bahndamm.
Teure Tiere schrien, als es uns kam.
Ich erinnerte mich nicht an die Affen und Ibisse meiner Kindheit.
Es gab die Klappe am Savignyplatz
Ein paar Schritte vom Literarischen Colloquium entfernt
Ich fürchtete immer, Grass oder Höllerer könnten reinkommen.
Aber die wußten wohl Bescheid und gingen da nicht pinkeln.
Da war der Keller.
Mit feinen Tunten.
Intellektuelle.
Kein Strich
Die meisten anderen Klappen waren im Schatten
wilhelminischer gothischer Kirchen.
Uhlandstraße.
Lausitzer Platz.
Joachimsthaler mit Park und Lokal.
Da betranken sich die persischen Studenten.
Wenn man bis zum Lausitzer Platz gefahren war
konnte man auch gleich zu Ellis Bier Bar gehen.
Es wurde getanzt.
Und man verabredete sich auf dem Klo.
Am Anhalter Bahnhof gab es eine Absteige.
Saunen keine.
Das kam später.
Ich nahm einen kleinen Löwen mit in die Pension
Carmerstraße.
Wir fickten die Nacht vom 20. auf den 21. März.
Irma klopfte.
Sie hatte meinen Geburtstagstisch gerichtet.
Der Löwe kritzelte im Amerikahaus einen Erpesserbrief.
Gib mir zehn Mark oder es könnten Dir Dinge passieren,
die Dir nicht lieb sind.
Ich lachte und gab ihm die zehn Mark.
Er sagte: danke.
Ich verstand nicht, warum er einen Brief geschrieben hatte.
Er wollte wohl mal einen Erpresserbrief geschrieben haben.
Der kleine Löwe ging zum Zirkus.
Er reiste mit einem Wal durch die Bundesrepublik
Er besuchte uns immer wieder.
Im Kleistkasino verkehrten Transvestiten.
In der Umgegend zwei Stricherkneipen.
Ecke Kleiststraße die Kleistquelle
Und gegenüber rein Bei Horst.
Mehr kannte ich nicht.
Viel mehr gab es damals wohl nicht.
Keine Hotels,Lederkeller, Filmkabinen,
Buchhandlungen, Bi–Schuppen, Dunkelräume, Tagesparties
Nicht einmal das Chez–Nous
Kein Tuntenbarock.
Alles duster und klamm.
Das K. C. wurde K.Z. genannt.
Über dem K. C. wohnte H. C. Artmann in einer Wohnung,
die mit leeren Bierflaschen möbliert war.
Wenn Peter Bichsel H. C. besuchte genierte er sich
ein Taxi zu nehmen.
Der Fahrer könnte ihn schief ansehen, wenn er vor dem K. Z. ausstieg.
Hubert Fichte: Die zweite Schuld, S. 91–93