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wuming schrieb am 12.5. 2003 um 01:04:45 Uhr über

Firmament

20 9.5.2003
Mathias Heybrock Allein im All Start Service Recherche DIESE MENSCHEN BRAUCHT KEIN MENSCH Das Dokumentarfilmfestival »Visions du reél« in Nyon Aus dem Fernseher dringt die schnarrende Stimme eines amerikanischen Sprechers, dessen beunruhigende Neuigkeiten simultan ins Deutsche übersetzt werden. Zu beobachten sei, dass sich die anderen Sterne in unserem Planetensystem langsam, aber unaufhaltsam von der Erde entfernen. In einigen zehntausend Jahren würden am Firmament keine Himmelskörper mehr auszumachen sein. Zu diesem Zeitpunkt seien wir sozusagen allein im All. Eine unglaubliche Kälte, so die Prophezeiung des Kommentators, beschleiche dann die Seele der Menschen. Die drei Leute freilich, die gebannt solch apokalyptischer Sciencefiction folgen, brauchen keine zehntausend Jahre zu warten. Tagtäglich machen sie die Erfahrung einer ähnlichen Isolation. Es handelt sich um Bewohner von Straguth, einem kleinen Dorf in Sachsen-Anhalt, das sich selbst überlassen blieb, seit die sowjetischen Soldaten den Militärflughafen dicht machten und abzogen. Mit den Russen verschwand das Geld, die Arbeitsmöglichkeiten; irgendwie jeder Schwung und die großartigen Saufpartien unter sozialistischen Brüdern und Schwestern. Jetzt ist man Teil eines Systems namens Bundesrepublik Deutschland und säuft doch nur noch alleine. Denn unerklärliche Fliehkräfte bewirkten, dass der Kontakt zum Rest der Welt abgeschnitten ist. Wohl gibt es Straßen nach Straguth, über die sich aber kaum ein Fremder in die Gegend verirrt. Thomas Heise immerhin hat sich für seinen Film Vaterland an dieses Dorf erinnert, das er in den achtziger Jahren schon einmal besuchte. Gemeinsam mit seinem Kameramann verbrachte er dort nun wieder einen Monat; hat den Bewohnern bei ihren täglichen Verrichtungen zugeschaut. Holzhacken zumeist, denn der Winter wird kalt. Oder eben Fernsehschauen, wobei der Verdacht nahe liegt, dass die oben beschriebene Szene inszeniert ist. Wäre aber egal, beziehungsweise erst recht ein Grund, den Film gut zu finden. Schließlich bevorzugt man auf dem Schweizer Dokumentarfilmfestival Visions du reél, wo Vaterland im Wettbewerb lief, einen Wirklichkeitszugriff, der nicht nur abbildet, sondern auch gestaltet und verdichtet. Heises Film tut das. Es ist ein schöner Film, leise, zärtlich, voll handwerklicher Präzision; ein würdiger Preisträger der internationalen Jury. Zudem war er symptomatisch für das gesamte Programm des feinen Festivals am Genfer See, wo man die frühlingshafte Pracht der Uferpromenaden beinahe schon traditionell mit etwas anderen Ansichten von Welt und der Wirklichkeit kontrastiert. Auf unserem Planeten scheint es nur so von Parallelgesellschaften zu wimmeln, die isoliert leben, ohne Kontakt zur sogenannten Zivilisation. Und zwar nicht im Urwald, sondern mitten unter uns. Der belgische Regisseur Patrick Jean berichtet etwa in seinem Film La raison du plus fort von der Segregationspolitik des französischen Staats, der die Migranten in riesige Gettos vor den Toren der Stadt abschiebt. Manchmal, wie in Lyon, sind diese Viertel nicht einmal in den offiziellen Dokumenten der Behörden verzeichnet - als wünsche man sich, dass sie gar nicht existierten. Weil keine Arbeit da ist, gibt es desto mehr Kriminalität. In Amiens entsteht deshalb vis a vis einer stillgelegten Fabrik ein Gefängnis. Als sei das der logische Ersatz für Menschen, die keinen Job finden und von der Justiz schon für das harmloseste Delikt kriminalisiert und inhaftiert werden. Auch das argentinische Kino, dem anlässlich der Präsidentschaftswahl ein Sonderprogramm gewidmet war, sprach von Armut und Isolation. Es zeigte freilich, das beides nicht ausschließlich die unteren, schlecht ausgebildeten Schichten treffen kann, sondern auch den Mittelstand, den in Argentinien durch eine heftige Wirtschaftskrise erschüttert wird. Es zeigte jedoch auch, dass es Mittel und Wege gibt, die Isolation zu durchbrechen. Die Regisseurin Myriam Angueira etwa erzählt in ihrem Film El Puente vom Entstehen einer gewaltigen sozialen Bewegung, mit der die Bewohner eines einst wohlhabenden Provinzstädtchens auf den totalen Kollaps der Wirtschaft reagieren. In Eigenregie, etwa durch Neu- und Selbstorganisation der Landschaft, gewährleisten sie, was weder dem Staat noch den großen Agrarindustrieunternehmen zuletzt gelang: die Ernährung der Region, die Versorgung wenigstens mit den elementarsten Dingen. Weil Geld nichts mehr wert oder aber verloren war, kehrte man zum Tauschhandel zurück. Gleichzeitig erhob sich ein massenhafter Protest gegen die korrupte Regierung, der im Dezember 1999 blutig niedergeschlagen wurde. Das war der Auftakt zu landesweiten Demonstrationen, zu den so genannten »Kochtopfmärschen«, die 2002 in zwei Wochen zwei Regierungen stürzte. Das oftmals etwas schwüle, gern als leidenschaftlich und sinnlich beschriebene Metaphernkino des poetischen Realismus sucht man im jungen argentinischen Kino vergeblich. Die Filme sind hart und genau, was auch auf die beiden anderen hier geschilderten Beispiele zutrifft. Klar strukturiert, sachlich und ohne Larmoyanz gaben sie Nachrichten von Menschen, die kein Mensch mehr braucht. Die mit dem Recht auf Arbeit und Selbstverwirklichung auch das Privileg von Wohlstand verloren haben, und sei er noch so bescheiden. Und manchmal beschleicht einen der Eindruck, das seien längst nicht nur Nachrichten aus so fernen Weltgegenden wie Argentinien oder Straguth. Die Bewohner dieses gottverlassenen Dorfes in Sachsen-Anhalt müssen sich vor dem Fernsehen manchmal wie Pioniere vorkommen; Avantgarde einer Isolation, die irgendwann die gesamte Spezies befallen könnte.
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