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Höflich schrieb am 30.5. 2004 um 17:03:00 Uhr über

Stechlin

Das erste und einzige Mal, daß ich jemanden das Wort aussprechen hab hören, das war Anfang des Jahres, wo mir der gute Deutschitaliener, blond und blauäugig man fasst es nicht (deshalb in Gedanken von mir immer nur, in Anlehnung an den bekannten ital. Modezar, »il tedescu« genannt)!, beim Umzug geholfen hat. Der Wagen war angemietet, und zugegeben, ein Gutteil der Helfershelfer hatte sich nach dem Einladen schon verabschiedet, nachdem ich ihnen eröffnet hatte, daß man in der Fahrerkabine eines Mercedes-Sprinter-Transporters unmöglich zu sechst durch das von mir als, subjektiv (logo!), Stadt mit der höchsten Polizeidichte Deutschlands empfundene Berlin gondeln könnte, und deshalb eben doch zumindest zwei oder drei der Mannschaft, so mein Flehen, bitte bitte die vier Stationen mit der U-Bahn fahren sollten. Schon rein technisch war die Fahrt auf vereisten Straßen mit immerhin noch vier verbliebenen (der aus dem Sprinter per Los vertriebene Teil hat sich nicht mehr blicken lassen) Aufrechten schwierig genug, weil ja die Fahrzelle doch nur eigentlich für zweieinhalb Personen ausgelegt war, der dritte Gang ging nicht rein, weil ein festgeklemmtes Knie im Weg war, und wenn er drin war, sprang er gleich wieder raus, die Räder des schwer beladenen Sprinters haben bei jedem Anfahren regelmäßig auf Eis und Schnee blockiert und sich lustig und reibungslos im Kreis gedreht, worauf sich, dem technischen Fortschritt sei Dank, jedesmal eine wie irre lärmende Warnleuchte zu Wort gemeldet hat.
Nach getaner Arbeit jedenfalls, kam jener deutsch-Italiener, den ich zu dem Zeitpunkt eigentlich nicht mal besonders leiden mochte, ein überdrehter Quassler, Tunichtgut und Frauengebraucher, also, im Gegensatz zu mir, eigentlich sympathisch bis aufs Messer, da kam dieser also, nachdem ich in der Erschöpfung etwas von 100 Freikilometern gefaselt hatte, die einem die Berliner Autoverleihfirma bei jedem Wagen einräumt, also da ist er im Schweiße seines Angesichts auf die Idee gekommen, daß man nach Brandenburg rausfahren könnte, zum Karpfenessen, ich war nicht begeistert, der Rest auch nicht, aber er hat irgendwas vom »Stechlin« gefaselt, »Der Stechlin, Brandenburg, der Stechlin, HARR HARR!«, und ich so »Stechlin? Das ist doch so Dingsbums, Fontane, jedenfalls so Preußenliteratenquark, oder?«, er so »jaja, der STECHLIN, harr harr, der Stechlin!!!!«, ich so »Aber jedenfalls, naaaaa, was wenn wir von der Fahrbahn abkommen, hier so eis und Schnee, und gegen eine Pappelallee prallen, oder von Nazis getötet werden...?«.
Er mußte sich fügen, und als ich dann mit der Gang, als Belohnung für Umzugsmühen und Beistand von mir bezahlt, ausgegeben, gesponsort, also im Kaffee saß, habe ich mir gequält gedacht, daß ich unbedingt die Stadt verlassen muß, um mir neue Freunde, Bekannte, flüchtige Bekannte, Wahlverwandschaften zu suchen.
Allerdings, nachdem ich tinnitusgeplagt aus dem bayerischen hier meinen Dienst Anfang März wieder angetreten habe, wurde mir bedeutet daß besagter deutsch-italiener noch nicht aus den Ferien zurück sei, und wohl auch das neue Semester nicht wahrnehmen werde können, da er an einer Art Burnout-Syndrom leide. Ich habe nicht weiter nachgefragt, er hat dann auch mal sich wieder für ein Wochenende in der Stadt blicken lassen, seltsamerweise in Begleitung seiner Mutter. Am Ende des Freitagabends habe ich ihn, ohne zu wissen warum, und ohne daß solches normalerweise vor allem meine Art wäre, gewissermaßen instinktmäßig, herzlich umarmt um ihn zu verabschieden, der er zwei Tage später wieder fahren würde.
In Bierseliger Runde wurde mir von seinem Mitbewohner allerdings neulich eröffnet, daß er, »il tedescu«, tatsächlich den Gutteil der Ferien in einer geschlossenen Anstalt zugebracht hätte, und bis auf weiteres auch nicht zurückkehren würde. Weitere Auskünfte wollte man mir nicht geben, oder zumindest konnte ich aus den wirren Kifferassoziationsfetzen des Erzählers (der übriogens der Depp war der mir Tinnitus verpasst hat, mit seinem Konzertvorschlag!!!!) nichts plausibles herausfiltern, aber so hat die Umarmung, über die ich mich im nachhinein selber recht erschrecken mußte, doch zumindest, also war sie dann doch zumindest, gut, sinnvoll und menschlich, und ich mag »il tedescu« jetzt auch viel lieber als vorher, und fühle Ungerechtigkeit in mir, der ich ihn doch nur deshalb nicht leiden mochte weil er ein so viel mehr sympathischer Kerl war als ich.
Das soll kein Nachruf sein, und ist nicht zynisch gemeint.
Get well, mein Freund.


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