Eine Sibylle ist eine Frau, die, von einem Gott begeistert, in der Extase die Zukunft kündet. Sibylle ist Name und Begriff zugleich. Sibyllen prophezeien aus innerem Antieb bevorstehendes Unheil. Das können sie deshalb, weil sie in die Sphäre des Übermenschlichen ragen. Sie sind nicht unsterblich, werden aber sehr alt. So zählt die Sibylle von Cumae (Kyme), von der hier in einem andern Zusammenhang die Rede war (im Motto zu »The Waste Land« von T.S.Eliot, das Ezra Pound gewidmet ist) bei der Begegnung mit Aeneas bereits 700 Jahre, während ihr noch weitere 300 Lebensjahre beschieden sein sollen. Dies seltsame Phänomen steht wiederum im Zusammenhang mit V.´s Problematik der Lebenszeiten, wenn ich es richtig verstanden hatte. In älterer Zeit war von einer Sibylle allein - einer Tochter de Troerkönigs Dardanos oder einer Tochter des Zeus und der Lamia - die Rede. Später kannte man mehrere Sibyllen, bisweilen zehn: die libysche, die chaldäische, die delphische, die eritäische, die kimmerische, die samische, die hellespontische, die phrygische, die tiburtinische und die cumäische Sibylle. Michelangelo hat sie in der Sixtinischen Kapelle gemalt. Dies hier in diesen Blaster zu stellen, ihn mit Altem anzureichern schien mir angemessen, denn ich habe hier auch das Gefühl einer Orakelstätte; dort wie hier blüht die Inspirationsmantik. Vor allem aber gehören mythische Seherinnen, wie Kassandra, und aktuelle, wie »b.« in diesen Kreis. Die archetypischen Bedrängnisse sind, wie auch Christa Wolf zeigte, die aktuellen noch für lange Zeit.
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