es wird allerhöchste Zeit.
In der sonderpädagogischen Geschichtsschreibung wurde bis heute die Bedeutung der frühen Irren-, Heil- und Pflegeanstalten in der Förderung der Blödsinnigen, Imbezillen und Idioten wenig herausgestellt. Dies ist um so erstaunlicher, als dass eine ganze Reihe von diesen Anstalten schon vor der so bekannten GUGENBRÜHLschen Gründung einer Anstalt im Jahre 1841 (vgl. GERTH 1992, 1), ihre Arbeit aufnahmen. Aller Wahrscheinlichkeit nach liegt die Quelle des Desinteresses in der falschen Annahme, dass in den Irrenanstalten des 19. Jahrhunderts keine Blödsinnigen Aufnahme fanden. Das Gegenteil ist aber Tatsache, denn in sämtlichen Irrenanstalten der Preußischen Monarchie wurden insgesamt 1.300 Idioten, Cretine und 735 Imebezille verpflegt (vgl. PREUSSISCHE STATISTIK 1882, IV.). Nur einige Irrenanstalten boten jedoch für die dort aufgenommenen Menschen einen entsprechenden Unterricht. Diesen Anstalten gilt unser Augenmerk.
Als erste dieser Anstalten ist die im Jahre 1811 entstandene Königliche Sächsische Heil- und Verpflegungsanstalt zu Sonnenstein zu nennen (vgl. LÄHR 1852, 276; NOSTITZ/JÄNCKENDORF 1829 a, I). Infolge der Napoleonischen Kriege wurde sie im Jahre 1813 vernichtet, um am 2.11.1817 erneut eingeweiht zu werden (vgl. 95). Im Behandlungskonzept der Patienten wurde unter anderem auch Unterricht berücksichtigt, denn dadurch sollte ein positiver Einfluss auf die Betroffenen geübt werden. »Kräftiger und nachhaltender als diese gesammten oberwähnten Mittel und die für Erleichterung und Erheiterung des Lebens getroffenen Einrichtungen wirkt Religionsübung und Unterricht auf das innere Sein und die Beruhigung der Seelengestörten« (394). Zu diesem Zweck wurde an dieser Anstalt eine Schule mit einem Geistlichen als Lehrer eingerichtet. »Der Geistliche hat die ihm aufgetragenen Schulstunden fleißig und ordentlich abzuwarten, die Lehrlinge in den nöthigsten Kenntnissen, vornehmlich im Christenthume getreulich zu unterweisen, und Unfleißige und Nachlässige, in sofern sie dies Unterrichtens nach ihren Geisteskräften fähig sind, aufzumuntern. Bei dem Unterrichte im Lesen bleibt dem Geistlichen nachgelassen, sich der Beihülfe eines dazu geeigneten Verpflegten oder Krankenwärters zu bedienen« (NOSTITZ/JÄNCKENDORF 1829 b, 246). Im Jahre 1850 erschien die zweite Ausgabe einer Monographie über den Turnunterricht an dieser Anstalt. Dieser wurde ab 1848 durch den Turnlehrer Louis SCHMIDT erteilt (vgl. TRAUGOTT 1850, 19). In dieser Schrift werden explizit auch die Blödsinnigen erwähnt, und zwar im Sinne der Gewöhnung an die Übungen. »Betrachten wir nun die Wirkungen genauer, welche das Turnen auf die verschiedenen Arten der Geisteskranken haben wird. Hier ist ein Blödsinniger, er muß geführt werden, wenn er sich von der Stelle bewegen, er muß gefüttert werden, wenn er essen soll. Wenn irgend etwas vermögend ist, ihn aus seinem lethargischen Zustand aufzumuntern, so ist es das Turnen. Hat man ihn nur einmal so weit gebracht, daß er einige Übungen an den Geräthen beginnt, so muß er dieselben dann auch ausführen, theils durch Schwung, theils der Trieb der Selbsterhaltung zwingen ihn dazu« (12). Für diejeningen, die an Melancholie oder Blödsinn leideten, schienen insbesondere Übungen an Streck- und Stemmschaukel als sinnvoll (vgl. 17).
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