Russland, nicht die Türkei
Was uns mit Russland vereint, trennt uns von der Türkei: kulturelle Prägungen, historische Wurzeln, geografische Nähe – Plädoyer für einen Wechsel in der Beitrittspolitik der Europäischen Union.
Europa ist dabei, die falsche Braut heimzuführen. Nicht die Türkei, Russland gehört in die EU! Lassen wir uns nicht vor den Karren der geostrategischen Begehren Amerikas spannen, widerstehen wir den Heim-ins-Türkenreich-Sirenenklängen unserer anatolischen Mitbürger. Folgen wir stattdessen unseren Neigungen und unserem Verstand. Europas kulturelle Prägungen, seine politischen und wirtschaftlichen Interessen und nicht zuletzt die historischen Wurzeln unseres Erdteils weisen geradewegs nach Russland, nicht nach Asien. Es wäre ein Hohn, entgegen der Logik von Geschichte und gegenwärtiger Politik, Europas größtem Land mit mehr als einer Million Quadratkilometer Fläche die Tür vor der Nase zuzuschlagen und uns stattdessen die vorwiegend asiatische Türkei einverleiben zu wollen.
Russland ist Teil unserer europäischen Kultur. Turgenjew, Gogol, Dostojewski, Chagall, Kandinsky, Tschaikowsky, Strawinsky verkörpern unser Erbe. Sie sind Stifter des europäischen Geisteslebens. Vergleichbare türkische Künstler sind uns kaum bekannt.
Seit Anfang des 18. Jahrhunderts ist Russland ein unverzichtbares Element des europäischen Machtgleichgewichts. Peter der Große war Zar, Zimmermann und fanatischer Europäer. Mit der Gründung St. Petersburgs etablierte er 1703 Russland unwiderruflich in Europa. Ohne Russlands enormen Raum und vor allem ohne seine Millionen toter Grenadiere hätten die Heere der Usurpatoren Napoleon und Hitler Europa unterworfen. Damit wären auf unserem Kontinent Freiheit und Menschlichkeit auf unabsehbare Zeit erloschen.
Josef Stalin war ein Massenmörder. Das kommunistische Regime unterdrückte Russland und seine osteuropäischen Länder. Doch die Sowjetunion war außenpolitisch nicht expansiv. Die Rote Armee verharrte hinter der Front des Zweiten Weltkrieges. Die Sowjetunion räumte den Randstaat Österreich. 1952 bot Stalin gar der Bundesrepublik im Gegenzug für die Neutralität eines wiedervereinigten Deutschlands den Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen und die Preisgabe der DDR an. Russland hat sich selbst vom Joch des Kommunismus befreit, einem Import der Deutschen Marx und Engels. Heute ist Russland auf dem Weg zur Demokratie. Moskau ist heute mehr denn je ein stabilisierender Faktor der europäischen Friedensordnung. Dies gilt trotz des Tschetschenien-Krieges. Oder gerade deshalb – die Beispiele USA und Israel zeigen, wie schwer es selbst etablierten Demokratien fällt, im Krieg gegen den fundamentalistischen und islamistischen Terrorismus die Menschenrechte zu wahren. Davon ist auch Europa betroffen.
Steigen wir von den lichten Höhen der Kultur und der Verteidigung des Humanismus in die Niederungen der politischen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Es ist eine Illusion zu glauben, die politische Machtbalance und Stabilität Europas unter Ausschluss der größten europäischen Nation, ohne ihre mächtige, mit Kernwaffen bewehrte Armee gewährleisten zu können. Ein wirksamer kontinentaler Umweltschutz ist ohne eine Teilnahme Russlands ebenfalls unmöglich – wie der GAU im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl zeigte. Schließlich bietet allein die Einbindung Russlands in die EU die Gewähr für eine langfristige Energieversorgung Europas, besonders Deutschlands, das ohne Atomkraftwerke auskommen möchte. Russlands Erdgas- und Erdölreserven sind für uns unerlässlich.
Durch die Aufnahme Russlands in die EU besitzen wir die Chance, die Teilung unseres Kontinents, die vor 90 Jahren mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges einsetzte, endlich nachhaltig zu beheben. Nutzen wir die Gelegenheit, durch die Einbindung Russlands Frieden und Wohlstand in Europa zu sichern. Auf diese Weise fördern wir zugleich die demokratische Entwicklung Russlands. Es ist absurd, zunächst die Türkei an die EU ziehen zu wollen, während wir unser Russland preisgeben. Die Integration Russlands in die EU schließt eine Aufnahme der Türkei auf lange Frist keineswegs aus. Doch wir sollten die Prioritäten mit kühler Überlegung setzen. Die Türkei ist mit Ausnahme Westistanbuls und des davor gelagerten kleinen europäischen Landfetzens geografisch, vor allem aber mental ein asiatisches Land. Europa und die Türken bleiben einander fremd. Das hat nicht zuletzt religiöse Ursachen. Die anziehendste Sehenswürdigkeit der Türkei für Europäer ist die Hagia Sophia, die einstige Hauptkirche des von den Osmanen unterworfenen christlich-orthodoxen Oströmischen Reiches. Erst nach dessen Zerstörung im Jahre 1453 wurde Moskau Mittelpunkt der christlichen Orthodoxie. Die christliche Renaissance bringt Russland heute Europa näher, während der erwachende Islamismus in der Türkei Europa ängstigt. Wechselseitig fehlendes Verständnis ist der wesentliche Grund für das Versagen bei der Integration der türkischen Zuwanderer in Europa, vor allem in Deutschland. Die Arbeitslosigkeit der Türken in Deutschland ist doppelt so hoch wie jene der Deutschen und EU-Ausländer. In Berlin, der größten türkischen Gemeinde, sind 40 Prozent ohne Beschäftigung. Die Quote der türkischen Sozialhilfeempfänger ist drei Mal so hoch wie die der Deutschen. Die Leistungen türkischer Schüler sind im Durchschnitt verheerend. Die Quote der Abiturienten erreicht nicht einmal ein Drittel der deutschen. Die meisten türkischen Schüler sind froh, die Hauptschule abzuschließen. Ihr Weg in die Arbeitslosigkeit ist programmiert. Diese Zahlen sind umso alarmierender, weil wir aufgrund des niedrigen Lebensstandards in Anatolien nach einer Aufnahme Ankaras in die EU mit einer Zuwanderung von zehn bis 15 Millionen Türken allein nach Deutschland zu rechnen haben.
Wechseln wir die Braut, solange noch Zeit dazu ist. Führen wir Russland heim nach Europa und versuchen wir derweil, uns die Freundschaft der Türkei zu erhalten, ohne uns von ihr umarmen zu lassen.
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