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wuming schrieb am 30.12. 2008 um 02:05:15 Uhr über

Neujahrsansprache

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
Wir stehen vor einem schrecklich schweren Jahr 2009. Lassen Sie mich mit einem Bekenntnis zu meiner eigenen Verantwortung für die Krise beginnen. Denn nur wer in sich geht und nicht immer nur mit dem Finger auf andere angeblich Schuldige zeigt, kann in diesen Tagen überzeugend ein öffentliches Amt ausüben. Wenn ich heute Verantwortung einräume, möchte ich das zugleich stellvertretend für viele andere tun, die in deutschen Führungspositionen ähnliche Verantwortung auf sich geladen haben. Ich werde dann ein paar Gedanken entwickeln, wie unsere Gesellschaft diese bisher schwerste Belastungsprobe der Bundesrepublik Deutschland bestehen kann.
Bisher habe ich zu denen gezählt, die immer für mehr bedingungslose Globalisierung auf den Waren- und Finanzmärkten plädiert haben. Das hing schon damit zusammen, daß ich als Präsident des deutschen Sparkassenverbandes und später vor allem Geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds Teil der Finanzwelt gewesen bin. Noch unmittelbar vor meinem Amtsantritt als Bundespräsident habe ich mit Hinweis auf die Globalisierung gesagt: „Die Welt ist in einem tief greifenden Umbruch. Wer hier den Zug verpaßt, bleibt auf dem Bahnsteig stehen." Das war ein Fehler. Denn ich hätte mich dafür einsetzen sollen, nicht einfach auf den nächsten Zug zu springen, sondern dessen Richtung im Sinne eines sozialen Managements der Globalisierung mitzubestimmen.
Hätten wir das rechtzeitig getan, wäre der Niedriglohndruck aus der Globalisierung nie so hochgewachsen, wie das über so viele Jahre in Deutschland leider geschehen ist. Umgekehrt wäre nicht so viel gigantisches Kapital einseitig auf die Seite der Besserverdiener geflossen und hätte nicht am Ende die jetzt dramatisch geplatzte globale Spekulationsblase immer mehr aufgeblasen. Ohne diese bei uns und anderen neoliberal verschuldete Einseitigkeit in der Einkommens- und Vermögensentwicklung, zu der übrigens die Steuerpolitik noch beigetragen hat, wäre nie global das Kapital fürs Spielkasino zusammengekommen, das nun teilweise verspielt wurde und so die gesamte Weltwirtschaft mit sich reißt.
Einen anderen Fehler habe ich gemacht, als ich in meiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit im Oktober 2004 für immer mehr Deregulierung eintrat: „Das westdeutsche Regelwerk war zu stark geprägt von einem alles durchdringenden Regulierungseifer. Es schnürte die Kraft zur Eigeninitiative ab und hätte längst gestutzt und neu eingestellt werden müssen. Wir brauchen in Deutschland endlich einen radikalen und nachhaltigen Abbau von Vorschriften und Bürokratie." Heute gestehe ich ein, daß die Deregulierung, vor allem im Finanzbereich, nie hätte stattfinden dürfen.
Und noch einen großen Fehler habe ich gemacht, als ich in meiner Berliner Rede vom letzten Jahr die Exportweltmeisterschaft als deutschen Profit aus der Globalisierung bezeichnet habe: „Gerade Deutschland hat davon profitiert, nicht umsonst ist das Land Exportweltmeister." Ich habe schon in meinem Interview in der Süddeutschen Zeitung vor wenigen Tagen eingeräumt, daß die Ungleichgewichte der Weltwirtschaft zwar auch Deutschland viele schöne Exporterfolge beschert haben, aber irgendwann zu Verwerfungen führen mußten. Die Exporte wurden schließlich weitgehend auf Kredit finanziert. Unsere von mir unterstütze Exportmanie (wie auch die der Chinesen und Japaner) hat zur Kreditblase und zur heutigen Krise entscheidend beigetragen. Das muß ich heute hier selbstkritisch einräumen.
Und noch etwas aus meinem Sündenregister. Ich habe stets auf die Reformen gedrängt, die Deutschland immer weiter von der „Sozialen Marktwirtschaft» entfernt haben. Selbst aus dem Ausland habe ich noch als Geschäftsführender Direktor des IWF im Juli 2000 die Bundesregierung aufgefordert, ihren Reformkurs konsequent fortzusetzen: „Die Bundesregierung hat bisher zu wenig unternommen, um den Arbeitsmarkt flexibler zu machen. Was hier getan wurde, reicht eindeutig nicht«. Ich habe auch immer zu denen gehört, die den Niedriglohnmarkt in Deutschland für gut gehalten haben, und habe mich noch im April dieses Jahres für eine Agenda 2020 eingesetzt, wobei ich mich gegen Mindestlöhne ausgesprochen habe. Falsch, muß ich heute sagen.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, nur wer seine eigene Verantwortung annimmt und offen eingesteht, qualifiziert sich für den ehrlichen Blick nach vorn. Nur der verdient Vertrauen. Es wird nun für viele von Ihnen im neuen Jahr sehr schwer werden, vor allem die, die ihren Arbeitsplatz verlieren werden, und die, die von ihren kleinen Ersparnissen leben müssen, darauf aber für lange Zeit nach Abzug der Inflation keine richtigen Zinsen mehr bekommen werden, oder die, deren an der Börse angelegten Betriebsrenten erheblich an Wert verloren haben und noch verlieren werden, oder die, die der freundliche Mann in der Sparkasse vielversprechend zu Gunsten seines eigenen Bonus in einen Immobilienfonds gelockt hat, der nun keine Auszahlungen mehr zuläßt.
Was wir jetzt dringendst brauchen, ist eine Rückbesinnung auf die Stärken der „Sozialen Marktwirtschaft". Sie war einmal - von der ganzen Welt bewundert - unser gesellschaftspolitischer Qualitätsausweis! [hier Beifall aus dem Publikum abwarten]
Also müssen wir in echter Solidarität wieder ein tragfähiges System für Langzeitarbeitslose statt Hartz IV aufbauen. Wir müssen das erfolgreiche System unserer Nachbarn von flächendeckenden Mindestlöhnen auch bei uns einführen. Wir müssen mit einer Sondersteuer auf die höheren Einkommen und Vermögen die entstandenen unverantwortlichen Einkommensungleichgewichte wenigstens ein Stück zurückdrehen. Wir müssen mit viel mehr an öffentlichen Geldern die Chancengleichheit im Bildungssstem wiederherstellen. Wir müssen, wie in den skandinavischen Ländern, mit teilweiser staatlicher Unterstützung die Sicherheit des deutschen Rentenssystems überzeugend und selbst von deutschen Massenblättern nicht mehr anzuzweifeln sichern. Sie, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, müssen sich in einem solidarischen Gesellschaftssystem wieder zu Hause fühlen können.
Wir müssen schließlich die gravierenden Fehlentwicklungen in der Globalisierung zurückdrehen. Wir können nicht mehr zulassen, daß von Ländern ohne Streikrecht und ohne unabhängige Gewerkschaften Billigstimporte ausgehen, die dann bei uns zu einer real negativen Entwicklung der Arbeitseinkommen führen. Das läßt sich zusammen mit ähnlichen Überzeugungen der neuen amerikanischen Administration, aber auch von unseren Partnerländern, wie Frankreich und Italien, durch eine Sozialklausel in der Welthandelsorganisation korrigieren. Nie wieder darf ein deutscher Unternehmer drohen dürfen, z.B. nach China zu verlagern, nur weil deutsche Arbeitnehmer nicht auf das chinesische Sozialniveau herabsteigen wollen.
Natürlich wird uns eine solche Rückbesinnung auf dieSoziale Marktwirtschaft" etwas Export kosten. Aber einerseits machen wir das durch mehr Binnenkonjunktur mehrfach wett. Anderseits wissen wir durch das krisenhafte Ende, daß unsere seit 2003 ständig steigenden Exportüberschüsse dem Gebot nachhaltigen Wirtschaftens nicht gerecht werden konnten. Das konnte einfach nicht gut gehen. Niemand sollte glauben, seine Arbeitslosigkeit ewig exportieren zu können.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wenn wir und nur wenn wir auf dem schnellsten Weg an die guten Erfahrungen mit der „Sozialen Marktwirtschaft" wieder anküpfen, finden wir zu der Solidarität, die unsere Gesellschaft nun in ihrer bevorstehenden schwersten Belastungsprobe braucht. Ich sehe keinen anderen Weg aus der schweren Krise.



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