»In 10 bis 15 Jahren, wenn meine Existenz gesichert ist«, vertraute Hans Henning Atrott 1987 der Illustrierten »Bunte« an, »hau' ich nach Australien ab.« Das war weit nach vorn gegriffen. Doch damals war noch nicht abzusehen, wie blendend sich sein Geschäft entwickeln würde. Wenn er ebenso monopolartig Tapeten verkaufen würde, wie er heute Anleitungen zum Selbstmord vertreibt, dann wäre er ein Fall fürs Kartellamt.
Das wäre aber schon das Schlimmste, was Atrott und seiner »Gesellschaft für Humanes Sterben« (DGHS) von einer deutschen Behörde widerfahren könnte. 2000 bis 3000 Menschen bringen sich jedes Jahr in Deutschland nach DGHS-Vorlagen um. DGHS-Chef Atrott steht mittlerweile in dem dringenden Verdacht, zahllosen Mitgliedern seiner Gesellschaft Zyankali-Kapseln zu Wucherpreisen verkauft zu haben. Doch weil nach deutschem Strafrecht Beihilfe zum Selbstmord nicht strafbar ist, riskiert er nichts.
Damit soll es nun vorbei sein. »Ich bin sicher, daß wir ihn diesmal packen können«, sagt Bielefelds Kripo-Chef, Kriminalhauptkommissar Horst Clages.
Clages setzt seine Hoffnung auf die Umstände des Todes von Rechtsanwalt Klaus-Peter Rudorf, der sich am 14. Juli vergangenen Jahres mit einer Giftpille umbrachte. Rudorf war im März der DGHS beigetreten, nachdem er in die Psychiatrische Abteilung der Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld eingeliefert worden war. Zwei Monate später puhlten ihm - buchstäblich in letzter Sekunde - Krankenpfleger eine Zyankali-Kapsel aus dem Mund, die er nach eigenem Bekunden von Atrott bekommen hatte.
Einer der behandelnden Ärzte wollte Atrott veranlassen, seine Kontakte zu Rudorf abzubrechen, er bekam aber keine Antwort. In einem Telefonat mit einem Freund in Berlin sagte Rudorf am 2. Juli, Atrott habe versprochen, ihn »nicht im Regen stehenzulassen« und ihm eine zweite Kapsel zuzustecken. Diese müsse er dann aber sofort nach der Übergabe schlucken.
Zwölf Tage später war Rudorf tot. Befund: Vergiftung durch Kaliumcyanid, vulgo: Zyankali. Bei Durchsicht von Rudorfs Kontoauszügen stellte die Kriminalpolizei fest, daß in mehr als einem halben Jahr nur zwei nennenswerte Kontobewegungen stattgefunden hatten. Rudorf hatte am 24. Mai, sechs Tage bevor die erste Giftpille bei ihm gefunden wurde, einen Scheck über 6000 Mark und am 5. Juli, neun Tage vor seinem Tod, einen weiteren Scheck über 3000 Mark ausgestellt.
Das Grundmuster im Fall Rudorf ist identisch mit dem Muster einer Reihe von spektakulären Giftselbstmorden, denen Atrott seine Prominenz und seine Marktführerschaft im Sterbe-Business verdankt. Jedesmal kam das Gift von Atrott oder von der DGHS. Und jedesmal gingen die Lieferanten straffrei aus.
Im September 1987 hatte Atrott der gelähmten Studentin Ingrid Frank aus Karlsruhe einen Zyankali-Trunk auf dem Nachttisch anrichten lassen. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, stellte das Verfahren aber ein.
Ein Vierteljahr nach Ingrid Frank starb unter beträchtlichem Medien-Begleitrummel die ebenfalls gelähmte Bankangestellte Dinah Friedmann, genannt Daniela, nach der Einnahme eines Giftcocktails, den die DGHS-Mitarbeiterin Gretlies Schwarzmann ihr gemixt hatte. Auch im Fall Friedmann kam es nicht zur Anklage.
»Um zu verhindern, daß Atrott weiterhin mit seinen Zyankali-Tütchen in der Bundesrepublik herumreist«, erstattete Lothar Evers, damals Geschäftsführer der »Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie«, gegen Atrott Anzeige wegen fortgesetzter Straftaten gegen das Leben. Anlaß war der Selbstmord der an multipler Sklerose erkrankten Hausfrau Cecilia Koenen aus Oberscheidweiler an der Mosel.
Cecilia Koenen hatte sich im Pflegehospiz »Echternacher Hof« in Trier mit Zyankali umgebracht, nachdem Atrott sie dort besucht hatte. Einige Tage nach ihrem Tod kam »Bild am Sonntag« mit einem von Atrott aufgenommenen »Todes-Interview mit Cecilia K.« heraus, in dem sie den letzten Wunsch äußerte, Atrotts »humane Gesellschaft (solle) man nie angreifen dürfen«. Daneben ein Close-up-Foto der Todgeweihten, wie sie mit einem Strohhalm das Gift aus dem Becher schlürfte.
Eine Straftat war wieder nicht festzustellen. Die Ermittlungen der Trierer Staatsanwaltschaft führten zu der Erkenntnis, Cecilia Koenen habe im entscheidenden Moment »die Tatherrschaft« gehabt und sei deshalb für ihren Freitod selbst verantwortlich. Auch die Evers-Anzeige wurde abgewiesen.
Die Bielefelder Kripo hat nun zum erstenmal einen neuen Ansatzpunkt für ihre Ermittlungen. Straflos ist Beihilfe zum Selbstmord nur, wenn der Suizident eine »freiverantwortliche Willensentschließung« trifft. Rudorf war aber nach Maßgabe einer in Bethel erstellten »gutachtlichen Stellungnahme« nicht zurechnungsfähig. Er war eingeliefert worden, weil er unter der Wahnvorstellung litt, Aids-krank zu sein. Wer aber einem Unzurechnungsfähigen zum Selbstmord verhilft, macht sich der »Tötung in mittelbarer Täterschaft« schuldig. Darauf stehen bis zu 15 Jahren Gefängnis.
Kripo-Chef Clages geht auch dem Verdacht nach, daß Atrott in der Schweiz einige Millionen Mark Schwarzgeld versteckt hatte, die er als Zyankali-Dealer verdient habe. Den gleichen Verdacht haben Mitarbeiter der DGHS-Zentrale in Augsburg, in der die Akten von 52 000 Mitgliedern geführt werden.
Bei der engen Verzahnung bleibt es nicht aus, daß Atrotts Privatgeschäfte und die DGHS-Geschäfte zuweilen durcheinandergeraten. Es heißt, es seien mehrmals für Atrott bestimmte Schecks im Nennbetrag von 3000 Mark versehentlich mit der DGHS-Post eingegangen.
Die DGHS selbst, so sagt einer von Atrotts Mitarbeitern, sei »buchhalterisch sauber«. Der DGHS-Apparat werde aber von Atrott im großen Stil für seine Privatgeschäfte mißbraucht. Und: »Sie ist eine tolle Geldmaschine mit einem Marionettenpräsidium, das nichts begreift.«
Ebensowenig begreifen die prominenten DGHS-Mitglieder, die ihm mit Sympathieadressen in Zeitungen und Illustrierten zu Diensten sind, vor welchen Karren Atrott sie gespannt hat. Kripo-Chef Clages meint, nach allem, was über Atrott bekanntgeworden sei, könne seine illustre Werbegemeinschaft - darunter die Schauspieler Inge Meysel und Helmut Fischer und die Professoren Ernest Borneman und Ossip Flechtheim - sich nicht mehr hinter Unwissenheit verschanzen.
Atrott fälscht Kritik an seinen dubiosen Privatgeschäften gern in Kritik an der DGHS um, deren Methoden zwar umstritten sind, deren ethisches Grundanliegen aber nicht in Frage steht.
Wie rüde der bärtige Sterbehelfer seine Widersacher abfertigt, erlebten letzte Woche die Hörer des Brandenburger Senders Radio 100,6: Als die Buchautorin Constanze Elstner (»Sterben - nein danke«) die von der DGHS empfohlenen Suizid-Methoden als untauglich anprangerte, schimpfte Atrott sie eine »dumme Göre« und wurde handgreiflich; er schlug der Kritikerin ins Gesicht.
In der DGHS-Verbandspostille Humanes Leben, humanes Sterben empfiehlt sich der Vorsitzende als stolzer Ketzer, der einer Welt voll schwachsinniger Staatsanwälte, gehässiger Journalisten und rückwärtsgewandter Pfaffen unerschrocken die Stirn bietet. »Wenn die Kirche heute noch die Macht hätte«, prahlt er, »dann wäre ich schon längst verbrannt.« Und in einem Leserbrief an die Zeit: »Überall zeigt sich christlicher Fanatismus als Riegel gegen gesellschaftlichen Fortschritt.«
Die DGHS-Klientel hört solche Töne gern. Dabei muß Atrott wahrhaftig nicht Verfolgung leiden, weil er für das Selbstbestimmungsrecht leidender Menschen streitet, sondern weil er immer wieder in Verdacht gerät, Profit aus der Not leidender Menschen zu schlagen. Die Ermittlungen richten sich nur gegen ihn, nicht gegen die DGHS.
Der weitverbreitete Glaube, mit Zyankali sterbe es sich schnell und leicht, ist falsch. Der Vergiftete schreit auf und bekommt infernalische Krämpfe. Erst nach einigen Minuten stehen Atmung und Kreislauf endgültig still. Professor Johann-Christoph Student, Spezialist für Schmerzbekämpfung und Sterbebegleitung aus Hannover: »Zyankali ist ein Nervengift, ebenso wie die gängigsten chemischen Kampfstoffe. Und ebenso scheußlich ist auch seine Wirkung.« Aus gutem Grund wird Zyankali im DGHS-Katalog der empfohlenen Sterbepräparate nicht geführt.
Atrott kennt die grausame Wirkung. Aber die Verwendung von Kaliumcyanid schützt ihn gegen Strafverfolgung wegen unterlassener Hilfeleistung. Eine einmal geschluckte Zyankali-Kapsel kann man nicht mehr durch Magenauspumpen oder forciertes Erbrechen zurückholen. Da gibt es keine Hilfe mehr zu leisten.
Die Gewinnmargen im Gifthandel sind monströs. Zyankali kann jeder Hobby-Chemiker ohne viel Fachkenntnisse selbst im Heimlabor herstellen. Der Materialwert der 3000-Mark-Gelatine-Pille beträgt nur ein paar Groschen. Allerdings, so sagt einer seiner Mitarbeiter, halte sich der Chef aus der Produktion ganz heraus. »Dazu ist er viel zu vorsichtig.«
Die Beweisführung ist schwierig, weil Atrott meist nur Bargeschäfte macht. Die Ware geht während der sogenannten Beratungsstunden, die er auf Verkaufsreisen quer durch Deutschland in DGHS-Geschäftsstellen oder in Hotels abhält, ohne Quittung über den Tisch. Je nach Konjunkturlage, so meint einer seiner Mitarbeiter, kassiere Atrott auf einer solchen Wochentournee 100 000 bis 200 000 Mark. Brutto für netto, versteht sich, weil die Spesen ja von der DGHS getragen werden.
Für den Verkauf von Zyankali könnte Atrott nicht belangt werden. Um ihn über die Steuer zu fassen, müßte die Kripo erst mal einige der Käufer ermitteln. Und das wird schwer. Denn die Teilnehmerlisten werden nach der Sitzung stets vernichtet.
Kripo-Sachbearbeiter Manfred Hudalla sucht nun dringend nach auskunftswilligen Atrott-Kunden. Bei der Fahndung stieß er letzte Woche auf die Namen von zwei alten Damen, die die Ermittlungen in eine neue Richtung lenken könnten: Die zwei Zeuginnen haben Atrott ihr Vermögen im Gesamtwert von acht Millionen Mark vermacht.
Ungemach droht neuerdings auch aus Österreich. Kurz vor Weihnachten letzten Jahres fing ein 85jähriger Wiener ein Päckchen mit einer Overkill-Kapsel ab, die für seine kranke Freundin bestimmt war. Der alte Mann sagte aus, seine Freundin sei DGHS-Mitglied, sie habe auch mehrfach mit Atrott telefoniert.
Das Wiener »Sicherheitsbüro« hat Interpol in die Ermittlungen eingeschaltet. Atrott gibt zu, daß er die Adressatin kannte, bestreitet aber, das Gift besorgt zu haben. Wenn ihm das Gegenteil bewiesen wird, muß er Österreich künftig meiden. Denn dort wird Beihilfe zum Selbstmord mit Gefängnisstrafen bis zu fünf Jahren geahndet.
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