Unser Leben erscheint weder bedroht noch besonders unterstützt, wenn ein Schulmeister bei der Visite im Frack sich auf eine Sahnentorte setzt, die die unvorsichtige Hausfrau auf einem Sessel stehen ließ, oder wenn einem protzig gekleideten Gigerl, das beim Aufzug der Majestäten durchaus sich in die erste Reihe drängen mußte, gerade im entscheidenden Moment der Zylinder über Augen, Ohren und Nase aufgetrieben wird, oder wenn der kleine, ganz preußische Hauptmannssohn die heikle Frage aufwirft, »ob der liebe Gott bei der Kavallerie oder bei der Infanterie« stehe oder ob er nur ein »einfacher« Mann (d.h. Zivilist) sei; auch fühlen wir unser Leben weder in Gefahr noch in besonderer Sicherheit, wenn wir bei Fritz Reuter lesen, daß ein unruhiger Schläfer die große Zehe seines Mitschläfers für eine feine Havannazigarre hält,—und doch liegt allen diesen unaufzählbaren Formen komischer Wirkungen eine Spannung im Gehirn zugrunde, die wenigstens andeutungsweise einen solchen Konflikt mit verblüffender Unlogik enthält, wie er in deutlichster Form beim Kontrast von Lebensbejahung und Lebensverneinung auftritt.
Carl Ludwig Schleich
'Von der Seele' (1922)
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