Ich, Avatar
Linus Reichlin
In letzer Zeit hocke ich nicht mehr oft in Kneipen, schaue kaum noch fern, sage Verabredungen ab, empfinde die Welt als grobstofflich. Lieber starte ich mein Notebook und uebersiedle in mein digitales Dasein.
Als Fleischhaufen kann der Mensch Computerprogramme nicht durchwandern. Dazu muss er sich digitalisieren, das ist nicht schwer. Er braucht nur einen Avatar. Meins heisst Digital Owl und wartet gedulidig in einer virtuellen Stadt namens WorldsAway auf mich. Ich schluepfe hinnein, schon bin ich binaer und faehig, an einem sprudelnden Brunnen mit entenkoepfigen Buchhaltern aus San Diego zu reden, in einer Welt, die nur auf Festplatten existiert und dennoch real ist.
Digital Owl ist circa fuenf Zentimeter gross, schmaechtig, traegt olivgruene Hosen, ein bordeauxrotes Hemd und den Kopf der Diana, der griechischen Goettin der Jagd, passend zu WorldsAway, wo viele griechische Saeulen stehen. Gespeichert ist Digital Owl in einem Zentralcomputer des Online-Dienstes Compuserve in Los Angeles, und seine Konstitution ist durch und durch elektrisch. Sein Kreislauf kommt in Schwung, wenn Strom durch meinen Computer fliesst. Klicke ich mit der Maus auf die Tuer zum Cafe, so tritt er ein; druecke ich die Funktionstaste F3, bezirzt er die Anwesenden mit einem gewinnenden Laecheln, mit dem Schluss ist, wenn ich F5 druecke; dann grollt Owl. Ich kontrolliere das Kerlchen total, aber nichts, was ich es tun lasse, geschieht aus Willkuer. Sein Leben ist zuweilen schon schwer genug.
Zum Beispiel lud mich kuerzlich eine gewisse Chief Bitcholyte in ihren Turf, ihre Privatwohnung ein, die digitale, meine ich, und ich, das heisst Digital Owl, nahm die Einladung an. Bitcholyte war recht freundlich, mitteilsam. Sie sei aus Vancouver, Kananda.
Wir kamen auf Kinder zu sprechen und wer immer hinter dem Avatar Bitcholyte steckte drueckte nun am fernen Ort Vancouver die Funktionstaste F4, worauf Bitcholyte ihr Laecheln verlor und traurig aussah: Ihr Baby, sagte sie, sei tot zur Welt gekommen. Digital Owl laechelte noch, denn mit der Reaktionsgeschwindgkeit in den stets ueberlasteten Computernetzen ist es so eine Sache; es dauerte eine Weile, bis mein Avatar den Befehoe F4 empfing und seine Mimik meiner Stimmung anpasste.
Bitcholyte verschwand uebrigens ploetzlich; ihr Satz, sie habe ein Baby tot geboren, stand noch auf dem Bildschirm, darunter meiner: »I am sorry for that«, englisch korrekt, menschlich unbeholfen. Und als mein Digital Owl sich umdrehte und mir sein F4-Gesicht zeigte, erschrak ich ueber diese Karikatur von Trauer, diese Heulsusengrimasse. Ohne es zu wollen, hatte ich Bitcholyte verspottet, vertrieben.
Man muss gut drauf sein als Avatar, sonst ist es hoffungslos, muss Gespraeche vermeiden, denen das Avatar mimisch und gestisch nicht gewachsen ist. Es sind nur zehn Funktionstasten da, die meisten dienen dem Ausdruck von Froehlichkeit und Hoeflichkeit. F10 der Freudensprung, F7 die Verbeugung, F6 das Winken, wie soll man da ueber den Tod reden?
Mit Ogre rede ich hin und wieder kurz ueber die Arbeitslosigkeit. »Hast du schon einen Job gefunden?« - »Nein, leider nicht.« - »Das wird schon noch, CU.«
So was schafft Digital Owl mimisch noch mit Funktionstaste F2 = ausgeglichener Gesichtsausdruck. Aber was soll ich druecken, wenn Ogre auch noch von seiner Freundin verlassen wird?
Es fehlen 125 Funktionstasten, mindestens.
Quelle: http://fuckup.homeunix.net/index.php?Avatar
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