Worterklärungen zum besseren und schnelleren Verständnis eines nachfolgenden - gelegentlich nur sinngemäß zitierten - Textes von Jean-Paul Sartre.
* Serialität (lat.) zu seriell, zeitlich und logisch aufeinander folgend, zu Serie: Reihe, Folge, gleichartige Gruppe
Logik (griech.) folgerichtiges Denken
* Statistik (lat.) 1 das zählende Erfassen, Gruppieren und systematische Darstellen von Sachverhalten und Tatbeständen in Massen; 2 Darstellung statistischer Daten in Tabellen
* Alterität (lat.) hier: Akkordtöne als Tonfolgen
Akkord (lat./frz.) 1 Übereinstimmung (beispielsweise mit Vorschriften und Vorarbeitern); 2 Leistungslohn
* Ensemble (frz.) 1 Gesamtheit der Mitwirkenden in einer Tanz-, Musik- und/oder Theateraufführung; 2 kleines Orchester; 3 Spiel eines ganzen Orchesters, im Unterschied zum Soiel eines Solisten
Orchester (griech.) 1 im Theater: vertiefter Raum für die Musiker vor der Bühne; 2 unter einem Dirigenten zusammenspielende größere Gruppe von Musikern mit verschiedenen Instrumenten
Solist (lat.) einzeln auftretender Spieler oder Sänger
* konventionell (lat.) vereinbart (durch Übereinkunft), üblich, gebräuchlich, gewohnheitsmäßig, alt hergebracht, normal
* Samurai Angehöriger des japan. Kriegeradels; eigentlich »Diener«, zu saburau, samurau »dienen«
* Dilletant (lat.) Nichtfachmensch, unwissender Laie, ein Mensch, der etwas nur unsachgemäß, nur aus oberflächlicher Liebhaberei, nur nebenbei und sich nicht überdurchschnittlich anstrengend, nicht beruflich tut
Laie 1 ein Mensch, der eine Sache, ein Gebiet nicht kennt und nicht versteht; 2 Anhänger, Fan einer Weltanschauung, Wissenschaft und/oder Religion, der kein Sänger, kein Priester, kein Künstler ist, und auch nicht werden will
* delegieren (lat.) 1 jemand abordnen, etwas zu ihm rübertragen; 2 jemand bevollmächtigen
* Monopol (griech.) alleiniger Anspruch, alleiniges Vorrecht
* Putativnotwehr (lat.) Irrtum, Notwehr bei einem scheinbaren oder vermeintlichen Angriff
* Dialektik (griech.) 1 Kunst des Diskutierens; 2 das Denken und Fühlen in inneren und äußeren Widersprüchen, mit dem Ziel die Widersprüche zu überwinden und aufzulösen (beispielsweise: intelligent/dumm, stark/schwach, gut/böse, edel/gewöhnlich, sadomasochistisch)
Quelle: Knaurs Wörterbücher
Text
Unser soziales Leben rollt in zwei einander entgegengesetzten Teilen ab, die sich in der konkret erlebten Geschichte in vielfältiger Weise mischen: Im Zustand der Serialität* sind wir nur Menge, Quantität, Masse, in der einzelne Individuen austauschbare Teile sind. Beispiele dafür: Ansammlungen in Straßen, auf Plätzen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Statistiken usw. In diesen Situationen sind wir im Zustand der Alterität*, weil jeder andere für uns nur ein anderer ist, weil unsere Individualität nicht zählt, weil wir austauschbar sind.
Sartre erklärt das folgendermaßen: »Ein Ensemble* wird seriell genannt, wenn jeder Einzelne, obwohl allen anderen benachbart, allein bleibt, weil er sich mit dem Denken der Nachbarn erklärt, verdeutlicht, veranschaulicht und begründet, und indem er sich wie alle Nachbarn verhält, ist er als Einzelner bedeutungslos.«
Wir erkennen in diesem Verhalten wieder einmal die Flucht vor der Verantwortlichkeit, die uns dazu verführt, durch das Übernehmen konventioneller* Rollen als Materie, als Dinge existieren zu wollen, als Dinge, die ihr Wesentliches nicht selbst schaffen müssen. Der Zustand in Alterität und Serialität, das Dahinvegetieren in konventionellen Rollen, bedeutet also Unfreiheit. Und wie den Punkern, Autonomen und Skinheads wird auch uns, in den Kleidern und Moden unserer Omas, Opas und Eltern, das Atmen zu eng, die Luft zu dünn.
Der Gestank in den unteren Ebenen, vor dem sie in die Höhe flüchteten, entstand durch Ackerbau und Viehzucht, Spezialisierung, Arbeitsteilung, Ordnung, Disziplin. Und bevor sie technische Entwicklungen zum Motor ihrer Beschleunigungen und Ausweitungen machten, begrenzten sie ihre sozialen Phantasien auf das Reich der Pflanzen. Herausragend erschienen ihnen die Wälder, die Bäume, ihr Baum. Denn sie verwurzelten in ihrer Herkunft, in ihrer Abstammung vom Stammbaum, in den früheren und gegenwärtigen Tätigkeiten ihrer Familien. Und. Die meisten Stammbäume hatten nur wenig Geist. Die meisten Menschen arbeiteten mit Pflügen, Sensen, Hämmern, Schwertern, und ihr Werk war eine Sache für Beine, Muskeln, Hände, aber nur selten für die Köpfe. Es hatte den Vorteil, daß Kinde rdie Rollen ihrer Eltern übernehmen konnten und ihr Leben lang bei dem blieben, was sie von Anfang an lernen mußten. Die Bauern die Landwirtschaft, die Handwerker und Händler ihr Gewerbe, und der Adel die Führungspositionen. Und die Könige blabla und babahu waren nur wenig gebildet, die Kaiser trara und tätterätä waren kaum ritterlich. Winnetou, Tecumseh und Geronimo wurden Lieblinge der Jugend, und ich suchte eine Antwort auf die Frage: »Wo sind all die Indianer hin?«
Sie gingen unter im Rausch der schneller, größer weiter funktionierenden Barbaren, und die fanden den »Sinn« ihres Lebens im Anhäufen von Menschen, Materie und Zahlen. Massenveranstaltungen und Massenversammlungen wurden modern. Fast alle wollten unwichtige Teile des großen Ganzen sein und meinen Eltern gefiel nicht, wer und/oder was sich da ausweitete. Denn sie sahen erstarrende Rangfolgen und Machtpyramiden in staatlichen und privaten Apparaten, in Kindergärten, Schulen, Ämtern, Anstalten, Kasernen, Stiftungen, Genossenschaften, Behörden, Familien.
Familien, die in einer langen Vernetzung von viel Generationen die immer wieder gleichen Berufe, Mentalitäten, Eigenschaften und Besitztümer vererbt hatten. Und das Ergebnis war Inzucht.
Eine unvermeidbare Notwendigkeit? Eine, für das Fortschreiten unverzichtbare Praxis?
Gewiß gewiß. Grafen, Fürsten, Kaiser und Könige, Handwerker, Händler, Priester, Wissenschaftler, Bauern, Knechte, Samurais* und andere Diener erlebten den Zwang der Spezialisten und mußten sich ebenfalls spezialisieren. Auch Künstler wurden mit vermeintlicher »Allgemeinbildung« protzende Dilletanten*.
»Mein Sohn arbeitet nichts«, sagte mein Vater, »der schreibt nur Bücher.« Und in einer politischen Versammlung zu einem Wissenschaftler mit dem Hang zu Frieden, Liebe, Eierkuchen: »Noch ein Buch?«
David Volksmund sagt: ich falle allzuoft vom Pferd, bin ein sehr schlechter Koch, liege bei ihm im Bett wie eine Schaufensterpuppe, habe als Samurai mehr Angst als Liebe und bin als Techniker die in den Wahnsinn treibende Naturkatastrophe.
Auch wenn davon nur die Hälfte stimmt, ich kann tatsächlich nicht alles und muß delegieren.
Aber was? - Das mir Unangenehme? - Das Teller spülen, Wäsche waschen, Papierkorb leeren, Staub saugen, Klo, Treppenhaus, Fenster, Küchenboden und Schuhe putzen. Den Rest delegiere ich an all die anderen Spezialisten. An Politiker in Sozial- und Arbeitsämtern, an Bodyguards, Militär und Polizisten. An Rechtsverdreher und Steuerberater. Und der Depp nebenan soll die Buchführung machen.
Wenn ich all das delegiert habe, bleibt für mich das Wahre, Schöne, Gute. - Das Kinder verprügeln, Frauen schlagen, Bücher schreiben, Filme drehen, Schach und/oder Monopol< spielen, saufen, kiffen, ficken, mir den Schwanz lutschen lassen und alte Männer nerven. - Aber in der Zeit, in der ich delegierte und delegierte, monopolisierten* meine Gegner den Gebrauch der Waffen.
Und folgerichtig verwundert mich, daß die von mir Bevollmächtigten, aus meinen Taschen, Fächern und Schubladen Geld verschwinden lassen, harmlose ja liebenswerte Nachbarn abknallen, ihr Anwalt murmelt »Putativnotwehr*«, oder sie schießen sich beim Reinigen ihre rWaffen ins eigene bein und spielen Tag und Nacht auf meinen Nerven Klavier, obwohl sie von Musik keine Ahnung haben.
Wie können wir uns aus dieser Unfreiheit befreien? Indem wir erkennen, daß auf einen schlechten Kriminalfilm, -roman die noch schlechtere Fortsetzung folgt und indem wir die Serie, die bloße Aufeinanderfolge, verlassen und eine Gruppe bilden. Wie ist das möglich?
Indem wir - oft durch eine äußere Bedrohung - uns dazu überreden lassen, gemeinsam zu handeln. Und die Serialität, die bloße Quantität, die uns zu austauschbaren Gliedern macht, als Werkzeuge unseres gemeinsamen Handelns einsetzen.
Wenn uns das gelingt, begegnen wir uns nicht mehr als Nachbarn, die gleichgültig grüßend aneinander vorbeilatschen, weil sie sind wie alle anderen, sondern als gleiche, weil jeder andere das gleiche wie wir tut, und wir das gleiche wie jeder andere tun.
Dabei müssen wir immer wieder die Grenzen der Serialität überschreiten, so, wie wir, als Individuen, immer wieder die Anstrengung unternehmen müssen, den Zustand der Dinge, das nur da sein, zu verlassen. - Wo uns das gelingt, entsteht eine Gruppe, und nur Gruppen sind der Motor der Geschichte.
Quelle: »SARTRE LESEBUCH. Den Menschen erfinden.« Zwölftes Kapitel: »Kritik der dialektischen* Vernunft, oder: Wie entsteht eine revolutionäre Gruppe? (1960)«; Rowohlt Taschenbuch, 1992, S. 139 ff
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