Kam es bei den Westgrönländern zwischen Angehörigen eines Winterlagers zu ernsthaften Konflikten, dann packte für gewöhnlich die Familie eines der Beteiligten seine Sachen und fuhr — ohne irgendwelche Emotionen zu zeigen — in eine andere Gegend. Gerieten indessen Leute, die in verschiedenen Winterlagern lebten, aneinander, verfuhr man normalerweise anders. Die beiden Kontrahenten trafen sich nämlich zu einem »Singwettstreit«, dessen Ablauf streng geregelt war. Die betreffenden Männer durften sich zwar in gebundener Form gegenseitig die schlimmsten Gemeinheiten an den Kopf werfen — bei den Keewatin etwa, daß der andere ein schlechter Jäger sei, der zudem seine Beute nicht teile, oder daß er einen kleinen Penis habe und deshalb seine Frau nicht befriedigen könne — aber sie mußten dabei lächeln, und der »Besungene« saß mucksmäuschenstill da und tat so, als ob ihn die ganze Sache nicht im mindesten berühre.
In Wirklichkeit bohrten sich freilich die Worte des »Singenden« nicht selten wie Holzsplitter in das gegnerische Fleisch:
»Jetzt werde ich Worte abspalten — kleine Worte, spitz wie die Holzsplitter, die ich mit meiner Axt abhacke; ein Lied aus alten Zeiten — ein Hauch der Ahnen.«
[...]
In Westgrönland sollte der »Singwettstreit« zwischen den Gegnern eine »Scherzbeziehung« herstellen. Doch manchmal klappte das nicht so ganz. Wenn nämlich einer der Beteiligten vor den anderen oder vor sich selber allzusehr das Gesicht verlor, zog er nicht selten anschließend mit seiner Familie in eine andere Gegend und kehrte nie mehr zurück. In ganz schlimmen Fällen ging er — um seinen Gegner zu beschämen und in ihm Schuldgefühle hervorzurufen — in die Wildnis, um dort jahrelang als Einsiedler (qivittoq) zu leben, oder er wählte gar die extremste Form des Rückzugs, den Selbstmord.
Dürr, Intimität II, 358 ff.
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