Gerhart Hauptmann: Die Weber
Soziales Drama von Gerhart Hauptmann; Uraufführung am 26. Februar 1893 im Neuen Theater Berlin (privat). Erste öffentliche Aufführung am 25. September 1894 im Deutschen Theater Berlin.
Die historischen Vorgänge, die Hauptmann seiner Dichtung zugrunde legt, spielten sich im Juni 1844 in den schlesischen Orten Kaschbach, Langenbielau und Peterswaldau ab, als ein spontaner Aufstand der von ihren Arbeitgebern ausgebeuteten Weber mit militärischer Gewalt niedergeschlagen wurde. Erzählungen von den menschenunwürdigen Lebensverhälnissen der schlesischen Leinenweber, die im Laufe des 19. Jahrhunderts wiederholt durch Aufstände ihre Lage zu verbessern suchten, wurden in Hauptmanns Familie überliefert, wie der Autor in seiner Widmung des Weber-Dramas an seinen Vater Robert Hauptmann bezeugt. Den Plan zu einer dramatischen Behandlung des Themas faßte Hauptmann 1888 in Zürich. Es folgten detaillierte historische Studien sowie zwei Informationsreisen in das schlesische Webergebiet im Frühjahr 1891, wo Hauptmann das »Elend in seiner klassischen Form« kennenlernte. Als Quellenwerk benutzte er die auf Dokumentation gegründete Schrift »Über die Noth der Leinenarbeiter in Schlesien und die Mittel ihr abzuhelfen« von Alexander Schneer, die im Juli 1844, also unmittelbar nach dem von Hauptmann dramatisierten Aufstand, erschienen war und Mitteilungen enthielt, die direkt in die Konzeption des Dramas eingingen. Ferner orientierte sich Hauptmann an Alfred Zimmermanns »Blüthe und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien« (1885) sowie vor allem an Wilhelm Wolffs »Das Elend und der Aufruhr in Schlesien« (1845), einer präzisen Analyse, die die Ereignisse des Aufstandes dokumentarisch wiedergibt und aus der Hauptmann das »Weberlied« übernahm.
Hauptmann behält die traditionelle Fünfaktigkeit bei. Dieses Formschema dient jedoch nicht mehr einem geschlossenen und kontinuierlichen dramatischen Prozeß, es stützt vielmehr die auf Wirkung und Kontrast angelegte Spannungskurve und ermöglicht die ökonomische Gliederung der verschiedenen Stoffkomplexe. Der erste Akt gibt eine allgemeine Charakteristik der Situation. Die Weber liefern im Hause des Fabrikanten Dreißiger (dessen historisches Vorbild ein zu Reichtum gelangter Unternehmer namens Zwanziger ist) ihren Parchent ab und nehmen ihren Hungerlohn in Empfang. Der Profitgier des Unternehmers steht auf der Seite der Lohnarbeiter die Angst vor dem Verlust ihrer Aufträge gegenüber. Der offen revolutionäre Ton, den der »rote Bäcker« anschlägt, rückt einen gewaltsamen Konflikt in greifbare Nähe. Der zweite Akt stellt der Massenszene des ersten die intime Familienszene gegenüber: Die Auswirkungen des Weberelends werden am Beispiel einer betroffenen Familie vorgeführt. Der in die Heimat zurückgekehrte Moritz Jäger begeistert die an ihrer Lage verzweifelten Weber mit dem sogenannten Dreißicherlied »Hier im Ort ist en Gericht, / noch schlimmer als die Vehmen, / Wo man nicht erst ein Urteil spricht / das Leben schnell zu nehmen. / - Hier wird der Mensch langsam gequält / hier ist die Folterkammer, / hier werden Seufzer viel gezählt / als Zeugen von dem Jammer.« Der Wunsch nach Verbesserung der Lage artikuliert sich unmittelbar im Anschluß an das Lied: »Und das muß anderscher wern ... jetzt uf der Stelle. Mir leiden's nimehr!« - Die zunehmende Unruhe unter den Webern veranlaßt die Behörden, das Weberlied zu verbieten, wodurch sie erbitterte Reaktionen der Betroffenen auslösen. Die revolutionäre Stimmung schlägt im vierten Akt in Aktion um. Die Aufständischen dringen plündernd und zerstörend in Dreißigers Villa ein und zwingen die Besitzer zur Flucht. Pastor Kittelhaus, ein Verfechter der bestehenden Verhältnisse, die auf der gemeinsamen Interessenbasis von Thron und Altar gründen, wird bei dem Versuch, die aufgebrachte Menge zu besänftigen, mißhandelt. Der Schlußakt zeigt aus der privaten Perspektive der Familie Hilse die Entfaltung des Aufstandes und nimmt am Ende die Ahnung seiner Niederlage symbolisch vorweg. Der alte Hilse, der aufgrund seiner religiösen Überzeugung den Aufstand verurteilt, findet als Unbeteiligter den Tod. Eine eindeutige Festlegung der Tendenz des Weber-Dramas verbietet sich gerade von dieser Schlußwendung der Hilse-Handlung her, die als eine tragisch-ironische Zusammenfassung des ganzen Dramas erscheint. (...)
Die Hilse-Handlung kann weder als resignative Zurücknahme des revolutionären Elans interpretiert werden noch im Sinne eines revolutionären Aktionismus, der das private Schicksal dem ideologischen Entwurf opfert. An der Offenheit des Dramaschlusses entzündete sich die kritische Auseinandersetzung mit dem Stück. B. Brecht sah im Tendenzgehalt der »Weber« »in Bezug auf die Gesellschaft nicht mehr, als das Milieu gibt.« Th. Fontane macht dagegen eine Formtradition dafür verantwortlich, daß Hauptmann sich genötigt fand, »das, was ursprünglich ein Revolutionsstück sein sollte, schließlich als Anti-Revolutionsstück ausklingen zu lassen. Es ließ sich nicht anders thun, nicht blos von Staats- und Obrigkeits-, sondern ... auch von Kunst wegen. Todessühne, Radau und Spiegelzertrümmerung nicht ...« Diese Äußerung weist darauf hin, wie aus der Aufnahme sozialer Thematik ein dramatisches Formproblem erwächst, das kennzeichnend für die Entwicklung des modernen Dramas ist. Der konventionelle, Lösungen nur andeutende Schluß des Weber-Dramas hat keine symbolische Repräsentanz mehr, da das Einzelschicksal hinter der sozialen Thematik der Masse zurücktritt. Hauptmann eröffnet hier ansatzweise die Entwicklung einer modernen dialektischen Dramenform mit differenzierter offener Tendenz. Diese neue Formorientierung verändert die Struktur des Tragischen in dem Maße, wie der Held durch das Vordringen der Massenproblematik in die passive Rolle gedrängt wird und nur noch jeweils eine Gruppe zu repräsentieren hat. Tragik wird nicht mehr im individuellen Sprechen der Einzelperson artikuliert, sondern aus distanzierter epischer Sicht gezeigt, wobei die Verwendung des Dialekts - häufig mißverstanden als Stilmittel einer vordergründigen naturalistischen Mimesis - diesen Abstand sichtbar macht. Ein Beispiel für die Tendenz der Episierung ist die Leitmotivation des Weberliedes.
Dem Ruf der »Weber« als Kampfstück, das eines der ungelösten zentralen Probleme der Gesellschaft zur Diskussion stellte, war die Kulturpolitik der Wilhelminischen Zensurbehörden eher förderlich. Diese versuchten, die Aufführung der »Weber« zu verhindern unter der Begründung, die im Drama enthaltenen Schilderungen seien dazu angetan, Klassenhaß zu erzeugen und könnten zu »einem Anziehungspunkt für den zu Demonstationen geneigten Teil der Bevölkerung Berlins« werden. Es bedurfte langer gerichtlicher Auseinandersetzungen, ehe das Kgl. Preußische Oberverwaltungsgericht das Verbot der »Weber« aufhob, was Wilhelm II. nicht hinderte, wegen der »demoralisierenden Tendenz« der »Weber« die kaiserliche Loge im Deutschen Theater zu kündigen.
(Kindlers Neues Literaturlexikon, Kindler Verlag, München)
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Netzfundstück.
Sollte der liebe Betriebsrat mal lesen!
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