lippensynchron
Bewertung: 8 Punkt(e)Zuerst hatte ich gezögert, als das Angebot aus Rom kam. Allerdings drängte die Kurie, alle paar Stunden hatte ich den Camerlengo am Telefon, das ich vermutlich der einzige Synchronsprecher war, der fließend polnisch, italienisch und latein beherrscht, mag mir auch geschmeichelt haben, jedenfalls hatte ich eine Woche später meine Antrittssynchronisation. Sonntagssegen, kein Hochamt, nur mal eine kleine Genesungsansprache vom Fenster, hatte es geheißen. Es wurde das bekannte Fiasko. Die ersten Sätze über ging die Sache gut: Johannes Paul bewegte, wenn auch schwerfällig, die Lippen, und über die Mikrofonanlage wurde meine Stimme eingeblendet, die ich von einem verborgenen Zimmer aus mittels einer Videoübertragung besorgte. Aber an der Stelle, wo er eigentlich 'haltet fest im Glauben' sagen sollte, schien er eine Art Hustenanfall zu bekommen, lautlos zwar, doch es wurde zunehmend schwierig, hierzu eine sinnvolle Stakkatolautfolge zu improvisieren, ich behalf mich mit einigen eingestreuten Hallelujas und Segensfloskeln, von denen ich hoffte, daß sie irgendwie katholisch klängen und mir nicht aus dem Horaz entsprungen seien. Aber offenbar hatte der Papst auf dem Balkon mitbekommen, daß da gewisse Diskrepanzen in der Tonregie bestanden; er machte wieder diese verbitterte Gesicht, wie man es in der letzten Zeit so oft gesehen hatte, ballte die Fäuste und unwillkürliche Spasmen durchzuckten sein Gesicht, die ich schnell mit Thomas von Aquins 'Summa contra gentiles' überblendete. Allerdings entglitt die Situation zusehends, diese ganze schrecklichen italienischen Kurienkardinäle um mich rum wurden auch immer krakeeliger, eine scharlachfarbene Camorra, die da meine Professionalität anzweifelte, aber ich war verdammt noch eins kein Neurologe. »Wieso habe ich diesen verdammten Job überhaupt angenommen? Ich kündige!« brüllte ich erregt und verließ den Raum. Das Mikrofon hatte ich vergessen auszuschalten. Es muß genau der Moment gewesen sein, als der alte Mann auf dem Balkon sich frustriert zum Hineingeschobenwerden gewandt hatte. Ob er wirklich an gebrochenem Herzen gestorben ist? Ob mich eine Mitschuld an allem trifft? Ich weiß es nicht. Ein großer Kirchgänger bin ich nie gewesen. Nur an den Weihnachtsgottesdiensten finde ich es doch schade, daß man nicht mehr am Weihrauch schnuppern darf, diese neue weltweite protestantische Strenge hat das Gesicht der Welt doch wohl mehr verändert, als mancher zugeben will.