DerSagenumwobeneKelchderKotze378
Bewertung: 2 Punkt(e)
Vor wenigen Tagen, hier in New York, erzählte mir jemand von seinem Besuch in der Eremitage zu Leningrad. Als Ambassador, der eben einen Handelsvertrag mit der Sowjetunion unterzeichnet hat, erlaubte er sich einen Wunsch: er wollte die Kunst sehen, die bekanntlich in der Eremitage versteckt ist und dem Volk nicht gezeigt wird. Werke der russischen Avantgarde von damals. Eine Funktionärin zeigte ihm dies und das, eine Kennerin. Sein letzter Wunsch: das Schwarze Quadrat von Malewitsch. Warum das? Weil es das gibt, sagte der Ambassador, und es ist hier in der Eremitage. Aber das wollte man nicht aus dem Keller holen, ein schwarzes Quadrat, das ist bekannt, kein Geheimnis. Schliesslich durfte der Ambassador es sehen für ein paar Minuten. Ein schwarzes Quadrat. Und sie begeisterten sich beide vor Malewitsch. Aber ich verstehe, sagte der Ambassador, ich verstehe, das würde dem sowjetischen Volk nichts bedeuten, sowenig wie dem schweizerischen, ein Quadrat und schwarz und weiter nichts, warum hängt ihr das nicht ein Mal neben die Gemälde des Sozialistischen Realismus, wo das sowjetische Volk sich erkennt bei der Arbeit für die Gesellschaft, und das Volk würde sehen, Malewitsch ist Quatsch! Die Dame hörte zu. Im Ernst, sagte der Ambassador, Sie brauchen doch Malewitsch nicht im Keller zu verstecken, das Volk würde ihn gar nicht ansehen! Die Dame lachte: Sie irren sich - das Volk könnte nicht verstehen, wozu dieses schwarze Quadrat, aber es würde sehen, daß es noch etwas anderes gibt als die Gesellschaft und den Staat.
Max Frisch, Schwarzes Quadrat