Camus
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„Der Herbst ist wie ein zweiter Frühling, in dem jedes Blatt zur Blüte wird“, soll der große Camus einmal gesagt haben, stand neulich in unserer Zeitung. Wann wohl hat er sich diesen Spruch überlegt?
Sicherlich ist er in den Sechzigern einmal nachts im Absinthrausch an der Seine entlanggetorkelt, bei einem Freund untergestützt, um dann unvermittelt stehenzubleiben, die Arme auszubreiten und diese Worte gen Himmel zu stoßen. Dabei hat er sich nicht viel gedacht, und hinterher lachten sein Freund und er laut über den albernen Spruch.
Auf der anderen Seite des Flusses war der Reporter eines rechtskonservativen Tagblattes unterwegs. Er war nackt. Nach einem Streit mit seiner Freundin, die ihn immer beschimpft hatte, er sei zu spießig, hatte er beschlossen, es mal allen zu zeigen und so richtig zu provozieren. Doch im Paris der sechziger Jahre achtete niemand auf einen nackten Mann, der nachts an der Seine entlangläuft. „Das habe ich intellektuellen Leitfiguren wie diesem Spinner Camus zu verdanken,“, dachte der Reporter, „die die gängige Toleranzgrenze mit ihren mehr als liberalen Ideen immer weiter nach oben treiben!“. Wieder einmal fühlte sich der Reporter in seiner Weltsicht bestätigt. Als er nun Camus seinen unbedachten Spruch ausstoßen hörte, freute er sich: Wie peinlich würde es dem Schriftsteller sein, seinen Namen am nächsten Tag in dem konservativen Tagblatt lesen zu müssen!
„Kitsch-Kommunist Camus“ oder eine ähnlich Alliteration schwebte dem nackten Reporter schon jetzt vor.
Und tatsächlich publizierte er den Spruch, Camus war es tatsächlich peinlich, was andere konservative Tagblätter nicht daran hindert, den Spruch jedes Jahr zum Herbst auf ihre Klatsch- und Fernsehseite zu setzten, unter einem Bild von Buchenblättern in allen Farben des Regenbogens.
Traurig aber wahr.