Das habe ich soeben im Spiegel Online gelesen.
Dieser Mann sollte nicht kritisiert werden, sondern für uns alle Vorbild sein - für mich ist er es auf jeden Fall. (Ich bin auch Beamter.)
Im öffentlichen Dienst in Italien gilt das Schummeln bei der Arbeitszeit als normal. Nun aber trieb ein Polizist es zu weit: In Unterhosen stempelte er sich ein, um sich danach wieder schlafen zu legen. Die Empörung ist groß, die Regierung will handeln.
Ein Polizist verlässt seine Wohnung in T-Shirt und Unterhose - und verändert Italien. Obwohl er das ganz gewiss nicht wollte.
Der Mann, als Verkehrspolizist angestellt bei der Stadtverwaltung im ligurischen Städtchen San Remo, tat eigentlich nur das, was viele Italiener tun: Er beschummelte seinen Dienstherrn. Frühmorgens ging er wie immer zum Angestellteneingang seiner Behörde, nahm dort seine Stempelkarte aus dem Fach und stempelte seinen Dienstantritt, pünktlich wie meist. Dann ging er wieder heim, um noch ein Weilchen zu schlummern. Und weil er gleich nebenan wohnt, wollte er sich nicht groß anziehen, sondern ging, so wie er war. Im Pyjama, wie er seinen Aufzug später nannte.
Dumm, dass die Kollegen von den Carabinieri und der Finanzpolizei dort eine versteckte Kamera installiert hatten. So sahen erst sie, dann über die Medien ganz Italien die Missetat der Amtsperson in unschönem Zivil.
Nun war und ist solches Verhalten in Bella Italia eigentlich an der Tagesordnung. Tausende, vor allem die in den Kommunen und Ministerien, in Krankenhäusern und Schulen Beschäftigten, praktizieren diesen lockeren Umgang mit der Arbeitszeit. Die Motive sind sehr unterschiedlich. Manche Krankenhausärzte, beispielsweise, arbeiten während ihrer eigentlichen Dienstzeit in einer Privatklinik. Schwarz natürlich. Auch Krankenschwestern und Techniker aus dem Gesundheitsbereich suchen gern solche Zusatzverdienste. Überall im öffentlichen Dienst gab und gibt es die »furbi«, die Oberschlauen, die sich ohne große Rücksicht auf den Rest der Welt Vorteile verschaffen, und die »fannulloni«, die Faulpelze, die lieber abtauchen als zu arbeiten.
Die Einführung der Stempeluhren, die den Ein- und Abgang des Arbeitnehmers minutengenau festhalten sollten, änderte daran nichts. Entweder stempelt man und geht gleich oder nach einem Zehn-Minuten-Plausch mit den Kollegen wieder weg, natürlich ohne sich dabei auszustempeln. Wenn man etwas weiter weg wohnt, lässt man die leidige Stempelei von Kollegen miterledigen.
Kafkaeske Flure
Die Abwesenheit des Personals verursacht natürlich einen enormen ökonomischen Schaden. In den Fluren der Rat- und Krankenhäuser, staatlichen Agenturen und Schulverwaltungen sitzt die Kundschaft stundenlang herum und verplempert ihre Arbeits- oder Geschäftszeit, weil das Personal gerade in der Spielhalle hockt, den heimischen Garten umgräbt oder schwarz im Zweitjob arbeitet. Manchmal brechen die Notaufnahmekapazitäten in den Kliniken zusammen. Verwaltungsarbeiten dauern unendlich lange, Genehmigungen werden faktisch verweigert, weil keiner daran arbeitet. Mitunter wandert der Behördenbesucher ratlos durch lange kafkaeske Flure, mit Türen rechts und links - und hinter allen Türen herrscht Leere. Man findet einfach kein Wesen, das Auskunft geben könnte, wo man sein Anliegen vorbringen kann.
Wenn es gar zu arg wird, gibt es natürlich Beschwerden der Bürger. Die Behörden werden aktiv und machen Kontrollen. Die fallen meist lustig aus. In Messina waren auf einem Amt für die Zuteilung von Sozialwohnungen 81 von 96 Angestellten bei der Nachschau nicht vor Ort. Keiner war krank, keiner hatte Urlaub. In Salerno wurden zehn Krankenschwestern im Dienst beim Strandspaziergang erwischt. Vom Klinikpersonal in Vibo Valentia fehlten unentschuldigt 17 bei der Arbeitsplatzbesichtigung: Ärzte, Schwestern und Verwaltungsangestellte.
Dann gibt es ein paar Tage lang Aufregung in den Lokalmedien, die Staatsanwaltschaften leiten gravierende Verfahren ein - doch das meiste versickert danach ganz langsam im morastigen Untergrund der Justiz.
Von den etwa 7000 abgeschlossenen Disziplinarverfahren im öffentlichen Dienst enden laut einer Schätzung der Regierung nur 200 mit der Kündigung des Betroffenen. Und die Hälfte von diesen wurde nicht wegen häufiger Abwesenheit, sondern wegen schwerer Vergehen oder Verbrechen entlassen.
Meistens sind die Tricks der »furbi« ja ohnehin allen im Betrieb bekannt. Jeder sieht ja, wenn der Arbeitsplatz nebenan wieder einmal leer ist. Auch die Behördenchefs wissen oft genau Bescheid. Aber viele ziehen ein ruhiges Schreibtischleben dem Ärger mit den Subalternen vor. Oder sie machen es selbst genauso.
Job in Rom, Nebenjob in Sardinien
Wie in einem Museum im römischen Stadtteil Eur: Da waren bei einer Stichprobe der Carabinieri gleich neun Angestellte, die sich eingestempelt hatten, unauffindbar. Und als die Fahnder ein wenig weiter schnüffelten, fiel ihnen die Leiterin der Kulturstätte auf. Die hatte in einer Pressemitteilung zwar noch am Tag vor Heiligabend von ihrem »täglichen Einsatz für den Schutz und der Förderung der Sammlung und des institutionellen Auftrags« berichtet. Aber wörtlich war das »täglich« wohl nicht zu nehmen: Die Chefin hat nämlich offenbar selbst einen Zweitjob. Nicht nebenan, sondern in Sardinien. Das macht natürlich eine gewisse Anreise erforderlich und kostet Zeit. Drum soll sie, nach den Recherchen der Polizei, manchen Monat gerade mal an sechs Tagen in ihrem römischen Kulturtempel gesichtet worden sein.
Und irgendwie ging nach diesen Meldungen plötzlich ein Ruck durchs Land. Die Attitüde der studierten Dame und das hässliche Foto des Polizisten in Unterhose - das war offenbar selbst für die langmütige Seele der Italiener zu viel: Das soll nicht das Bild unseres Landes sein, so wollen wir nicht sein, so sind wir nicht. Basta, es reicht.
Binnen weniger Tage kochte das Thema hoch, die Medien berichteten in großer Aufmachung von den »Faulenzern« und »Betrügern«. Regierungschef Matteo Renzi, wie immer mit feinem Gespür für die Gemütslage seiner Landsleute, setzte sich sogleich an die Spitze des Unmuts: Wer in flagranti erwischt wird, wie er seine Stempelkarte oder die Karte von Kollegen missbraucht, soll binnen 48 Stunden vom Dienst suspendiert und von der Gehaltsliste gestrichen werden. Der Betroffene hat dann 30 Tage Zeit, sich juristisch zu wehren, seine Unschuld zu belegen. Auch die Amtschefs, die ihre betrügerischen Untergebenen nicht anzeigen, machen sich fortan strafbar. Vor wenigen Tagen passierte der Gesetzestext das Kabinett. In Rekordzeit soll das Gesetz in Kraft treten.
Der Polizist aus San Remo ist freilich noch schneller dran. In einer »ersten Tranche von insgesamt etwa 20 zu Entlassenen« soll er Gehalt und Job verlieren, kündigte der Bürgermeister an. Auch er weiß, was die Bürgerwut jetzt verlangt.
Nur der arme Schutzmann wird wohl nicht verstehen, dass er jetzt der »Schmutzmann der Nation« sein soll.
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