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Schreibakteur schrieb am 20.1. 2013 um 14:33:04 Uhr über

Zeichensammlerin

Aufmerksam ging sie die herbstliche Allee entlang. Würde sie heute erfolgreich sein? Schon eine Woche hatte sie nichts mehr gefunden. Aber sie wusste, mindestens eines fehlte noch. Also musste sie weitersuchen.

Vor ihr fiel ein Blatt vom Baum. War das ein Zeichen? Sie blieb stehen und beobachtete das Blatt, wie es langsam zu Boden schwebte. Schließlich blieb es am Straßenrand liegen. An der Stelle war nichts besonderes zu erkennen. Also wohl doch kein Zeichen.

Sie bekam ein schlechtes Gewissen, dass sie das Blatt so lange beobachtet hatte. Vielleicht war ihr gerade dadurch das eine, das entscheidende letzte Zeichen entgangen! Sie musste besser darin werden, schnell zu entscheiden, was ein Zeichen war und was nicht.

Ein weiteres Blatt löste sich vom Baum. Sie beobachtete es kurz, dann entschied sie, dass es wohl wieder kein Zeichen war und ging weiter. Schließlich war es nichts ungewöhnliches, dass im Herbst Blätter von den Bäumen fielen.

Andererseits waren Zeichen immer so geartet, dass man sie leicht für normale Vorgänge halten konnte, wenn man nicht genau darauf achtete. Das war ja gerade die Kunst beim Zeichenlesen, dass man die Bedeutung scheinbar banaler Dinge erkannte. Es war eine Kunst, die Zeichen zu erkennen, eine Kunst, die viel Aufmerksamkeit verlangte.

Sie hielt inne. Irgendwie hatte sie das Gefühl, etwas war falsch gewesen an der Situation eben, auch wenn sie nicht hätte sagen können, was. Sie drehte um. Wo genau war das Blatt vorhin heruntergefallen? Ach ja, genau, bei dem Baum da vorne.

Sie betrachtete den Baum, konnte aber nichts auffälliges feststellen. Auch die Straße war ganz normal. Und doch hatte sie das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmte. Aber was? Sie war sich nun ganz sicher, das war das Zeichen, nach dem sie gesucht hatte. Hier war es, direkt vor ihrer Nase, und doch konnte sie es nicht erkennen.

Sie galt als die beste aller Zeichensammlerinnen. Ihr folgte der Ruf, alle Zeichen zu finden, ganz egal, wie unauffällig sie waren. Oft hatte sie Zeichen bemerkt, die anderen Zeichensucherinnen entgangen waren. Aber dieses Zeichen wollte sich ihr einfach nicht offenbaren. War sie jetzt an ihre Grenze gelangt?

Das durfte nicht sein. Dieses Zeichen war wichtig. Es war nicht irgendein Zeichen, es war der Schlüssel, ohne den alle anderen Zeichen nutzlos waren. Sie musste es finden. Und sie war sich ganz sicher, es war hier. Sie spürte geradezu körperlich seine Anwesenheit. Es musste genau vor ihren Augen liegen! Warum zum Teufel sah sie es dann nicht?

Sie begann, die Umgebung systematisch zu durchmustern Sie schaute in jeden Winkel, analysierte auch noch das kleinste Detail, aber sie konnte das Zeichen einfach nicht entdecken.

Sie nahm sich nochmal den Baum vor. Zentimeter für Zentimeter begutachtete sie die Rinde des Stammes, aber sie konnte kein Zeichen erkennen. Alles war erschreckend normal. Auch an den Ästen konnte sie nichts besonderes erkennen, und auch nicht an den wenigen dort noch hängenden Blättern.

Sie trat zurück. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich auf Details zu konzentrieren? Vielleicht war ja das Zeichen in der gesamten Szenerie verborgen? Zeichen konnten in jeder Größe vorliegen, und so, wie man einen Buchstaben in einem Buch nicht erkennen kann, wenn man die einzelnen Atome analysiert, aber auch nicht auf zwei Kilometern Entfernung, war es auch bei der Zeichensuche wichtig, die richtige Größenordnung zu finden.

Sie betrachtete die Szene. Und nun fiel es ihr auf: Obwohl der Baum kaum noch Blätter hatte, lagen auch nur wenige Blätter unter ihm auf der Straße. Oder hatte sie nur der Straßendienst weggeräumt? Sie betrachtete die Straße unter den anderen Bäumen. Überall lag viel Laub herum, nur unter diesem einem Baum lag kaum Laub. Das musste das Zeichen sein!

Sie nahm ihren Fotoapparat und fotografierte die Szenerie. Außerdem machte sie sich ein paar Notizen über das Zeichen. Was mochte es wohl bedeuten? Sie hatte keine Ahnung. Aber glücklicherweise musste sie es auch nicht deuten. Sie war nur Zeichensammlerin, keine Zeichendeuterin. Dafür waren andere zuständig.



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