107. c) Nutzen der Rechenkunst zur Bildung der philosophischen Seele
Dieses nun wollte ich auch jetzt sagen, daß einiges auffordernd für die Vernunft ist, anderes nicht; was nämlich in die Sinne fällt
zugleich mit seinem Gegenteil, als auffordernd ansetzend, was aber nicht, als nicht erregend für die Vernunft. - Jetzt verstehe ich
es schon, sagte er, und es dünkt mich auch so. - Wie nun? Die Zahl und die Einheit, zu welchem von beiden scheinen sie dir zu
gehören? - Ich weiß nicht, sagte er. - Berechne es nur, sprach ich, nach dem Vorhergesagten. Denn wenn die Einheit deutlich
genug an und für sich gesehen oder von sonst einem Sinne ergriffen wird - so könnte sie dann keine Hinleitung sein zum Wesen,
eben wie wir von dem Finger sagten. Wenn aber mit ihr zugleich immer irgendein Widerspiel von ihr gesehen wird, so daß kein
Ding mehr eins zu sein scheint als auch das Gegenteil davon; dann wäre schon eine weitere Beurteilung nötig, und die Seele
würde darüber bedenklich werden müssen und, den Gedanken in sich aufregend, untersuchen und weiter fragen, was doch die
Einheit selber ist. Und so gehörte dann die Beschäftigung mit der Einheit unter jene Leitenden und zur Beschauung des Seienden
Hinlenkenden. - Eben dieses aber, sagte er, hat die Wahrnehmung, die es mit dem Eins zu tun hat, ganz besonders an sich.
Denn wir sehen dasselbe Ding zugleich als eines und als unendlich vieles. - Wenn nun die Eins, sprach ich, so wird wohl die
gesamte Zahl eben dieses an sich haben. - Allerdings. - Das Zählen aber und Rechnen hat es ganz und gar mit der Zahl zu tun. -
Freilich. - Dies also zeigt sich als leitend zur Wahrheit. - Auf ganz vorzügliche Weise. - Und gehört also unter die Kenntnisse,
die wir suchten. Denn dem Krieger ist es seiner Aufstellungen wegen notwendig, dieses zu verstehen; dem Philosophen aber,
weil er sich dabei über das Sichtbare und das Werden erheben und das Wesen ergreifen muß, oder er ist doch nie der
eigentliche Rechner. - So ist es, sagte er. - Unser Staatswächter aber ist ein Krieger und ein Philosoph. - Wie sollte er nicht! -
So wäre denn die Kenntnis ganz geeignet, o Glaukon, sie gesetzlich einzuführen, und die, welche an dem Größten im Staate
teilhaben sollen zu überreden, daß sie sich an die Rechenkunst geben und sich mit ihr beschäftigen, nicht auf gemeine Weise,
sondern bis sie zur Anschauung der Natur der Zahlen gekommen sind durch die Vernunft selbst, nicht Kaufs und Verkaufs
wegen wie Handelsleute und Krämer darüber nachsinnend, sondern zum Behuf des Krieges und wegen der Seele selbst und
der Leichtigkeit ihrer Umkehr von dem Werden zum Sein und zur Wahrheit. - Sehr wohl gesprochen, sagte er. -
Und nun, sprach ich, begreife ich auch, nachdem die Kenntnis des Rechnens so beschrieben ist, wie herrlich sie ist und uns
vielfältig nützlich zu dem, was wir wollen, wenn einer sie des Wissens wegen betreibt und nicht etwa des Handelns wegen. -
Wieso? sagte er. - Dadurch ja, was wir eben sagten, wie sehr sie die Seele in die Höhe führt und sie nötigt, mit den Zahlen
selbst sich zu beschäftigen, nimmer zufrieden, wenn einer ihr Zahlen, welche sichtbare und greifliche Körper haben, vorhält und
darüber redet. Denn du weißt doch, die sich hierauf verstehen, wenn einer die Einheit selbst im Gedanken zerschneiden will,
wie sie ihn auslachen und es nicht gelten lassen; sondern wenn du sie zerschneidest, vervielfältigen jene wieder, aus Furcht, daß
die Einheit etwa nicht als Eins, sondern als viele Teile angesehen werde. – Ganz richtig, sagte er. - Was meinst du nun,
Glaukon, wenn jemand sie fragte: Ihr Wunderlichen, von was für Zahlen redet ihr denn, in welchem die Einheit so ist, wie ihr sie
wollt, jede ganz jeder gleich und nicht im mindesten verschieden, und keinen Teil in sich habend? Was, denkst du, würden sie
antworten? - Ich denke dieses, daß sie von denen reden, welche man nur denken kann, unmöglich aber auf irgendeine andere
Art handhaben, - Siehst du also, sprach ich, Lieber, wie notwendig die Kenntnis uns in der Tat sein muß, da sie die Seele so
offenbar nötigt, sich der Vernunft selbst zu bedienen zum Behuf der Wahrheit selbst? - Gar sehr freilich, sagte er, bewirke sie
dieses. - Und wie? Hast du wohl dies schon bemerkt, wie die, welche von Natur Zahlenkünstler sind, auch in allen andern
Kenntnissen sich schnell fassend zeigen, die von Natur Langsamen aber, wenn sie im Rechnen unterrichtet und geübt sind,
sollten sie auch keinen andern Nutzen daraus ziehen, wenigstens darin alle gewinnen, daß sie in schneller Fassungskraft sich
selbst übertreffen. - So ist es, sagte er. - Und gewiß auch, wie ich denke, wirst du nicht leicht vieles finden, was dem Lernenden
und Übenden so viel Mühe machte als eben dieses. - Gewiß nicht. - Aus allen diesen Gründen also dürfen wir die Kenntnis
nicht loslassen, sondern die edelsten Naturen müssen darin unterwiesen werden. - Ich stimme ein, sagte er. -
107. d) Förderlichkeit der Geometrie
Dies eine also, sprach ich, stehe uns fest. Das andere aber, was damit zusammenhängt, wollen wir auch sehen, ob uns das
etwas nützt? - Welches? fragte er; oder meinst du die Meßkunst? - Eben diese, sprach ich. - Was nun an ihr auf das
Kriegswesen Bezug hat, sagte er, so ist wohl offenbar, daß dieses nützt. Denn um Lager abzustecken, feste Plätze
einzunehmen, das Heer zusammenzuziehen oder auszudehnen, und für alles, was die Richtung des Heeres in den Gefechten
selbst und auf den Märschen betrifft, wird es einen großen Unterschied machen, ob einer ein Meßkünstler ist oder nicht. - Zu
dem allen, sagte ich, ist freilich ein sehr kleiner Teil der Rechenkunst und der Meßkunst hinreichend; der größere und weiter
vorschreitende Teil derselben aber, laß uns zusehen, ob der einen Bezug hat auf jenes, nämlich zu machen, daß die Idee des
Guten leichter gesehen werde. Es trägt aber, sagten wir, alles dasjenige hierzu bei, was die Seele nötigt, sich nach jener anderen
Gegend hinzuwenden, wo das Seligste von allem Seienden sich befindet, welches eben sie auf jede Weise sehen soll. - Richtig
gesprochen, sagte er. - Also wenn die Meßkunst uns nötigt, das Sein anzuschauen, so nützt sie; wenn das Werden, so nützt sie
nicht. - Das behaupten wir freilich. – Und dieses, sprach ich, wird uns wohl niemand, wer nur ein weniges von Meßkunst
versteht, bestreiten, daß diese Wissenschaft ganz anders ist, als die, welche sie bearbeiten, darüber reden. - Wieso? - Sie
reden nämlich gar lächerlich und notdürftig; denn es kommt heraus, als ob sie bei einer Handlung wären und als ob sie eines
Geschäftes wegen ihren ganzen Vortrag machten, wenn sie quadrieren, eine Figur anfügen, hinzusetzen und was sie sonst für
Ausdrücke haben; die ganze Sache aber wird bloß der Erkenntnis wegen betrieben. - Allerdings, sagte er, - Und ist nicht auch
noch dies einzuräumen? - Was doch? - Daß wegen der Erkenntnis des immer Seienden, nicht des bald Entstehenden, bald
Vergehenden? - Leicht einzuräumen, sagte er. Denn offenbar ist die Meßkunst die Kenntnis des immer Seienden. - Also,
Bester, wäre sie auch eine Leitung der Seele zur Wahrheit hin und ein Bildungsmittel philosophischer Gesinnung, daß man
nämlich nach oben richte, was wir jetzt gar nicht geziemend nach unten halten. - So sehr als möglich tut sie das. - So sehr als
möglich müssen wir also, sprach ich, darauf halten, daß dir die Leute in deinem Schönstaate der Geometrie nicht unkundig
seien. Und auch der Nebengewinn davon ist nicht unbedeutend. - Welcher? - Dessen du erwähntest in bezug auf den Krieg; ja
auch bei allen andern Kenntnissen, um sie vollkommener aufzufassen, wird ein gewaltiger Unterschied sein zwischen denen, die
sich mit Geometrie abgegeben haben und die nicht. - Ein gänzlicher, beim Zeus, sagte er. - Also diese zweite Kenntnis wollen
wir unserer Jugend aufgeben. - Das wollen wir. -
107. e) Astronomie und Stereometrie
Und wie? Die Sternkunde etwa als die dritte? Oder meinst du nicht? - Ich gewiß, sagte er. Denn die Zeiten immer genauer zu
bemerken, der Monate sowohl als der Jahre, ist nicht nur dem Ackerbau heilsam und der Schiffahrt, sondern auch der
Kriegskunst nicht minder. - Wie anmutig du bist, sprach ich, daß du scheinst die Leute zu fürchten, sie möchten meinen, du
wolltest unnütze Kenntnisse aufbringen. Das aber ist die Sache, nichts Geringes, jedoch schwer zu glauben, daß durch jede
dieser Kenntnisse ein Sinn der Seele gereinigt wird und aufgeregt, der unter anderen Beschäftigungen verlorengeht und
erblindet, obwohl an dessen Erhaltung mehr gelegen ist als an tausend Augen; denn durch ihn allein wird die Wahrheit gesehen.
Die nun dieser Meinung auch sind, werden deine Rede, es ist nicht zu sagen wie, vortrefflich finden; die aber hiervon noch
nichts irgend gemerkt haben, werden ganz natürlich glauben, daß du nichts sagst. Denn einen andern Nutzen, der der Rede wert
wäre, sehen sie nicht dabei. So sieh nun lieber gleich, zu welchen von beiden du redest, oder ob du für keinen von beiden
Teilen, sondern deiner selbst wegen vorzüglich die Sache untersuchst, nur aber auch niemanden mißgönnen willst, wer etwa
noch einen Nutzen davon haben kann. - So, sprach er, will ich am liebsten, vorzüglich meiner selbst wegen, reden sowohl als
auch fragen und antworten. - So lenke denn, sprach ich, wieder zurück. Denn nicht richtig haben wir jetzt eben das Nächste an
der Meßkunde angegeben. - Wieso, fragte er. - Indem wir, sprach ich, nach der Fläche gleich den Körper in Bewegung
nahmen, ohne ihn zuvor an und für sich betrachtet zu haben. Und es wäre doch recht, nach der zweiten Ausdehnung die dritte
zu nehmen. Diese hat es aber zu tun mit der Ausdehnung des Würfels und mit allem, was Tiefe hat. - Richtig, sagte er. Aber
dies, o Sokrates, scheint noch nicht gefunden zu sein. - Und zwar, sprach ich, aus doppelter Ursache; sowohl weil kein Staat
den rechten Wert darauf legt, wird hierin nur wenig erforscht bei der Schwierigkeit der Sache, als auch bedürfen die
Forschenden eines Anführers, ohne den sie nicht leicht etwas finden werden, und der wird sich zuerst schwerlich finden, und
wenn er sich auch fände, würden ihm, wie die Sache jetzt steht, die, welche in diesen Dingen forschen, weil sie sich selbst zuviel
dünken, nicht gehorchen. Wenn aber ein ganzer Staat sich an die Spitze stellte, der die Sache gehörig zu schätzen wüßte: so
würden sowohl diese gehorchen, als auch die Sache würde, wenn anhaltend und angestrengt untersucht, wohl ans Licht
kommen müssen, wie sie sich verhält, da sie schon jetzt, wiewohl von den meisten gar nicht geachtet, sondern eher gehemmt,
auch von den Forschenden selbst, welche die rechte Einsicht nicht haben, wieweit sie nützlich ist, dennoch dem allen zum Trotz
vermöge ihres innern Reizes gedeiht und man sich gar nicht wundern muß, daß sie ans Licht gekommen ist. - Anziehend, sagte
er, ist sie freilich ganz besonders. Aber erkläre mir noch deutlicher, was du eben meintest. Die ganze Lehre von den Ebenen
nanntest du doch Geometrie. - Ja, sprach ich. - Und dann zunächst ihr erst die Astronomie, darauf aber lenktest du um. -
Eilfertig, sprach ich, alles recht schnell durchzunehmen, verspätete ich mich vielmehr. Denn obschon die Methode, die Tiefe
oder das Körperliche zu finden, das nächste war, übersprang ich diese, weil es mit der Untersuchung noch lächerlich steht, und
nannte nächst der Meßkunde die Sternkunde, die es mit der Bewegung des Körperlichen zu tun hat. - Richtig gesprochen. - So
wollen wir denn, sprach ich, die Sternkunde als die vierte setzen, als würde die jetzt ausgelassene sich schon einstellen, wenn
nur ein Staat sich darum bekümmerte. - Natürlich! sagte er. Und was du mir eben tadeltest, o Sokrates, wegen der
Sternkunde, daß ich sie auf gemeine Art gelobt, so will ich sie jetzt, so wie du sie auch treibst, loben. Denn das dünkt mich
jedem deutlich, daß diese die Seele nötigt, nach oben zu sehen, und von dem Hiesigen dorthin führt. - Vielleicht, sprach ich, ist
es jedem deutlich außer mir; denn mir scheint es nicht so. - Sondern wie? - Daß sie, wie sich jetzt die, welche zur Philosophie
hinaufführen wollen, mit ihr beschäftigen, gerade unterwärts sehen macht. - Wie meinst du das? fragte er. - Gar vornehm,
sprach ich, scheinst du mir die Kenntnis von dem, was droben ist, bei dir selbst zu bestimmen, was sie ist. Denn du wirst wohl
auch, wenn einer Gemälde an der Decke betrachtet und hinaufgereckt etwas unterscheidet, glauben, daß der mit der Vernunft
betrachtet und nicht mit den Augen. Vielleicht nun ist deine Ansicht die rechte, meine aber einfältig. Denn ich kann wieder nicht
glauben, daß irgendeine andere Kenntnis die Seele nach oben schauen mache als die des Seienden und Unsichtbaren, und
wenn einer nach oben gereckt oder nach unten blinzelnd nur irgend Wahrnehmbares zu lernen trachtet: so leugne ich sogar, daß
er je etwas lerne, weil es von nichts dergleichen eine Wissenschaft gibt, und behaupte, daß seine Seele nicht aufwärts schaue,
sondern nur unterwärts, und wenn er auch ganz auf dem Rücken liegend lernte zu Lande oder zu Wasser. -
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