Über TO BRING YOU MY LOVE von PJ Harvey
Als ich diese CD zum ersten Mal in meinen Player schob, war ich 17 Jahre alt und mit dem Hören wurde einiges anders. Die kraftvollen, sehnsüchtigen Songs von PJ Harvey bliesen mir den musikalischen Schund aus den Ohren und öffneten mich für die Zukunft. Die CD war für mich der Beginn, Musik nicht mehr nur als Untermalung von irgendwelchen Gemütszuständen zu benutzen, sondern sie als eigenständige Kunstform Ernst zu nehmen. Musik verdient es, ihr intensiv und konzentriert Gehör zu schenken, wie ein Bild Zeit braucht, um es vollkommen wahrzunehmen.
Mit „To Bring You My Love“ begann ich in die Tiefen von Songs vorzudringen. Ich setzte mich auch intensiver mit den Texten auseinander. Dort wo auch der Ursprung der Musik liegt. Bis in die Frühzeit (bis etwa Ende des 5. Jh. v.Chr.) waren Vers und Gesang eine untrennbare Einheit, die einige Zeit später nur durch eine Leier (die Ly-ra) unterstützt wurde. Das ist bis heute die Grundlage der nicht elektronischen, also handgemachten Musik. In der Tradition der Singer/Songwriter ist es ein Mann bzw. eine Frau und eine Gitarre, die moderne Leier. Und es sind noch immer Geschichten, die durch die Musik transportiert werden.
Wenn ich heute Radio höre, wünsche ich mir oft, die Masse von „No Angels“-Bands würde keine verständliche sondern nur eine Fantasiesprache verwenden. Das würde zwar die abgrundtief schlechte Musik nicht besser machen, aber man würde von den Floskeln verschont werden, die irgendein koksender Produzent den Bikinisängerin-nen zusammengeschustert hat.
PJ Harvey singt zwar nicht über globale Probleme sondern eher über Zwischen-menschlichkeiten, aber die Form, in der sie dies tut, hebt sie von den anderen ab. „Lover please release me/My arms too weak to grip/My eyes to dry for weeping/My lips too dry to kiss”. Wer die Zeilen nur liest, könnte sie vielleicht als trivial empfinden, aber das Gute an der Musik ist ja, dass sie zusätzlich zu der Bedeutungsebene des Textes, ganz unmittelbar noch eine Färbung durch die Sprache, also die Stimme gibt. Trauer und Sehnsucht kann ich so nicht nur in den Texten aufspüren, sondern fühle es auch der Stimme. Ich stelle mir PJ Harvey vor, wie sie da im Studio steht und in konzentrierter Innigkeit ihre Songs einsingt. Ein dunkler Raum und die Musik, die eng mit den Worten verschlungen ist und sie beim Singen immer weiter in die Tiefe zieht. Was für ein erhebendes Gefühl. Wer jetzt sagt: „Die soll doch ihren Exhibitionismus an anderer Stelle ausleben“, der hat nichts von guter „Popmusik“ verstanden. Es geht hier doch gnadenlos um die Inspektion des eigenen Ichs, auch wenn das mitunter hinter einer fiktiven Person versteckt ist. (Gibt es überhaupt eine Kunstform, bei der das nicht zutrifft? Gut, in der Literatur mag es Romane geben, die sich aus der Ana-lyse und Recherche speisen, aber ich wage zu vermuten, dass es bei Lyrik – und um nichts anderes handelt es sich bei den Songtexten – meistens eine sehr starke Be-troffenheit des Autors gibt.) Musik, von der ich hier spreche, entsteht doch meistens gerade aus dieser eigener Betroffenheit und Selbstanalyse. Man achte darauf, wie traurig die meisten der wirklich guten Lieder sind. Deswegen ist diese Musik ja auch so intensiv, wenn man sich richtig darauf einlässt. Wer Kurt Cobain mal auf der Büh-ne gesehen hat, weiß wie weit ein Musiker gehen kann. Und in der Konsequenz wie er sein Leben zu Ende gebracht hat, merkt man auch, dass da sicherlich nicht viel Inszenierung oder Selbststilisierung im Spiel war, sondern nur ein Haufen Lebens-leid. Kann man nicht in den Schreien Cobains die blanke Verzweifelung spüren?
PJ Harvey gehört da eher zu den Musikern, die sich eine Schutzmauer aufgebaut haben, indem sie eine klar erkennbare Bühnenpersönlichkeit einnehmen. Auf der Tour zu „To Bring You My Love“ trug sie ein rotes Kleid, eine Perücke mit extrem langen Haaren und viel Schminke. Das baut theatrale Distanz zum Publikum auf. Die persönlichen Texte können so durch eine Figur vorgetragen werden und die Privat-person Polly Jean Harvey kann so einen Abstand zu ihnen aufbauen und sie quasi mit einem Blick von außen vortragen.
Als ich sie 1995 in Hamburg in der Großen Freiheit auf der Bühne sah, war ich be-eindruckt und bestimmt auch etwas verliebt. Aber letzteres möchte ich eher als eine Jugendsünde abgehakt wissen. PJ Harvey hat vieles in mir ausgelöst, was Musik an sich für mich heute ausmacht. Auf der Bühne hat sie gezeigt, wie intensiv man Musik ausleben kann und was sie dadurch für Menschen, die diese Musik hören, bedeutet. Bis heute verfolge ich alles, was PJ Harvey musikalisch produziert. Ich kenne jeden Song und bin absoluter Fan. Und da macht es nichts, dass sie bist jetzt nicht wieder ein solches Meisterwerk wie „To Bring You My Love“ abgeliefert hat. Was sie privat treibt, reizt mich nicht. Das muss immer schön sauber getrennt bleiben, ich möchte auf keinen Fall zu denen gezählt werden, die vor ihrer Tür auflauern und vielleicht den Müll durchsuchen, um irgendetwas in der Hand zu halten, was einmal ihre Haut berührt hat.
Die Stimme und der Gesang von PJ Harvey ist das einzige, was mich verführt, von so etwas wie Liebe zu sprechen. Die Stimme und die Melodien, die diese formt, be-deuten für mich so etwas wie Geborgenheit. Das mag auch damit zusammenhängen, dass ich damit aufgewachsen bin, zumindest was mein musikalisches Erwachsen-werden angeht. Wie ich schon gesagt habe, schafft sie es, Gefühle zu transportieren, die nicht mehr der Unterstützung durch die Sprache bedürfen. Ihre Stimme ist warm, kräftig, druckvoll, mächtig und steht wie eine Ikone über der Musik. Manchmal habe ich das Gefühl, die Musik tritt beim Hören vollkommen in den Hintergrund und ich sehe nur noch diese Stimme vor mir. Ich gehe um sie herum und nehme sie in jeder Nuance wahr.
In der Zeit als sie die Platte aufgenommen, nahm sie auch klassischen Gesangsun-terricht. Ihr ging es darum, mehr Umfang für ihre Stimme zu bekommen, um somit mehr Ausdrucksmöglichkeiten zu haben. Diese Weiterentwicklung ist deutlich ge-genüber der vorhergehenden Platte zu hören. Die Stimme wird vielmehr auch zu ei-nem Instrument, das den Song alleine tragen könnte. Trotzdem sie diesen Unterricht hatte, klingt es keinesfalls so, als würde sie ihre Stimme nun besonders technisch einsetzen. Die Technik ist da, bestimmt aber keinesfalls das Songwriting. Auch wenn sie beispielsweise in diesem Unterricht lernt, die Stimme nicht zu überreizen, also keinesfalls zu schreien, setzt sie diese Überstrapazierung bewusst ein, wenn es der Song erfordert. Ich denke, genau dies sollte das Ziel aller erlernter Technik in kreati-ven Dingen sein. Lernen wie es geht, die eigenen Möglichkeiten ausbauen, die Technik wieder bewusst vergessen und Dinge fließen lassen. Wenn ich eine Oper höre, ist mir der klassische Gesang sehr schnell zu perfekt und emotionslos. Was ich höre, ist eine intensiv gelernte Technik, die es schafft, jeden Ton des Notenblattes korrekt und perfekt zu treffen. In der sterilen Reinheit klingt es fast so, als wären Stimme und Notenblatt eine Spieldose. Das Notenblatt ist die Stiftwalze, auf der Me-tallzungen angeordnet sind und die Stimme fährt dort rüber und bringt sie zum Klin-gen. Es ist also ein mechanischer Vorgang. Ich gebe zu, nicht besonders bewandert zu sein, was die Klassik angeht, und wer den klassischen Gesang liebt, wird jetzt die Stirn in Falten legen, die Mundwinkel nach unten ziehen und sagen: „Also wenn die X in dem Stück X das hohe C anstimmt, spüre ich da mehr Intensität als in einem ganzen Album von deiner komischen PJ Dingsbums!“ Aber für mich ist die Klassik zu theoretisch.
Was ich brauche, ist Herz, Energie und Intensität. Und das hat PJ Harvey auf „To Bring You My Love“.
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