Musterknabe

Meine Mutter erzog mich systematisch zum Musterknaben. Ich musste nett zu allen Leuten sein, zu meinen Lehrern, zu Bekannten und Nachbarn. Auch wäre es eine Katastrophe gewesen, mit Freunden oder Klassenkameraden zu schlägern.

In ein Mädchen in der Nachbarschaft habe ich mich insgeheim verliebt. Im Gegensatz zu mir war sie eher eine Draufgängerin. Sie mochte mich zwar auch ganz gerne, aber sie mochte keine Musterknaben. So hat sie es darauf angelegt, das »Muster« aus mir zu vertreiben. Kurzerhand nahm sie mich mit in ihren Judo-Verein, wo ich zeigen musste, was ich drauf habe.

Ich war zwar sportlich genug und hatte deshalb kein Problem. Aber einfach jemanden niederzukämpfen ging schon gegen meine anerzogene Mentalität. Nach etlichen Niederlagen brachte ich es mit ihrer Hilfe fertig, mich vom Musterknaben zu verabschieden. Wer schwächer ist, muss leiden! Das erregte mich, und das gefiel ihr. Unsere anfangs zarte Liebe wurde zu leidenschaftlichem Sex.

Wir heirateten und bekamen auch bald Kinder. Gegenüber meiner Mutter betonte sie stets, dass unsere Kinder niemals zu Musterknaben*innen werden sollten. Meine Mutter akzeptierte das irgendwann. Lieber draufgängerische Enkelkinder als gar keine.