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Osiris, am 15.3. 2005 um 10:21:15 Uhr
Leitfossilien

Dazu fällt mir die Gattung lingula ein, die zu den Brachiopoden (»Armfüßern«) gehört, einer Klasse von Lebewesen, die gewisse Ähnlichkeit mit Muscheln haben, aber zwei unterschiedliche Klappen und einen Stiel ihr eigen nennen, mit dem sie auf dem Grund von Gewässern festwachsen können. Stammesgeschichtlich haben Muscheln (lamellibranchiata) und Brachiopoden überhaupt nichts miteinander zu tun. Ihr gemeinsamer Vorfahr lebte wohl irgendwann im Proterozoikum vor ca. 1 Mrd. Jahren.

Lingula ist total langweilig. Sie ist zahnlos (»inarticulat«), ihr Gehäuse hat keine Verzierungen, flach, mickrig, bildet je nach Umgebung Schalen aus Kalk oder Horn aus und hat, daher der Name, ungefähr die Form einer 'rausgestreckten Zunge.
Dafür lebt diese Gattung nun schon seit dem Ordovizium, seit fast 500 Millionen Jahren, fast unverändert. Ihre Vorfahren haben in den Gewässern gewohnt, in denen die kegelgehäusigen Riesentintenfische jagten - vielleicht machten sich diese gelegentlich über lingula her, obwohl sie bestimmt auch langweilig schmeckte - , sie war präsent, als die ersten kieferlosen Panzerfische die Meere durchstromerten und Dinichthys für läppische 20 Millionen Jahre im Devonmeer »shock and awe« verbreitete, sie paßte sich dem langsamen Hinundherwogen der Lagunen an, die in die Steinkohlensümpfe am Rand des frisch aufgefalteten Variszischen Gebirges hineinragten, sie überlebte das heftigste Artensterben des Phanerozoikuzms an der Wende Perm/Trias, das 95% der Arten ausrottete, Lingula aber übersah; hätte sie Augen gehabt, hätte sie das Größerwerden der Saurier beobachten können - und deren Verschwinden beim nächsten Artensterben, und jetzt überlebt sie in PCP-kontaminierten Tümpeln. Wir vergehen - lingula, die heimliche Beherrscherin der mehrzelligen Welt - lacht sich eins mit ihren unscheinbaren ungleichen Gehäuseklappen. Dabei vibriert ihr Stengelmuskel.

Nein, lingula ist das exakte Gegenteil eines »Leitfossils« - denn je leiter das Fossil, je kürzer die Periode zwischen Artentstehung und -verbreitung einerseits und Aussterben andererseits.


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