Movens. Experimentelle Literatur.
von Max Bense
movens. Dokumente und Analysen zur Dichtung, bildenden Kunst, Musik, Architektur in Zusammenarbeit mit Walter Höllerer und Manfred de la Motte herausgegeben von Franz Mon, Limes-Verlag. Wiesbaden 1960.
Wir haben heute in Deutschland experimentelle Literatur. Sie ist natürlich nicht unabhängig von gleichartigen Tendenzen, im Ausland vor allem in Nord- und Südamerika, in Japan, England und Frankreich gibt es verwandte Veröffentlichungen, besitzt aber dennoch gewisse eigene Züge. Selbstverständlich will ich ihr damit nicht schon künstlerischen Rang, sondern nur eine eigene Absicht zugestehen. Auch gibt es Beziehungen zu älteren und traditionellen Bemühungen, die Hocke in seinen schönen Untersuchungen über den »Manierismus in der Literatur / Sprach-Alchemie und esoterische Kombinationskunst« zusammengefaßt hat. Doch stehen wahrscheinlich die Versuche Apollinaires, Lewis Carrolls, Gertrude Steins, Joyces und Majakowskis der heutigen experimentellen Literatur näher als die manieristischen Autoren früherer Epochen. Auch darf man den Zusammenhang zwischen älteren manieristischen und jüngeren experimentellen Vorhaben nicht zu eng fassen; »manieristisch« und »experimentell« bezeichnen nicht das gleiche. In beiden Fällen handelt es sich allerdings um Eigenschaften, die vornehmlich die materiale Eigenwelt der Sprache und der Texte betreffen und nicht ihre phänomenale Außenwelt, also stärker auf die linguistischen Gegebenheiten, aus denen Poesie und Prosa gemacht werden, als auf die Bedeutungen dieser Gegebenheiten bezogen sind. Doch während der Ausdruck »manieristisch« sich zunächst auf das sichtbarliche Ergebnis, auf die neuen künstlichen Formen bezieht, kennzeichnet der Ausdruck »experimentell« vor allem ihren Entstehungsprozeß und die Abhängigkeit von ihm. Dementsprechend relativiert die experimentelle Literatur alle Kategorien zwischen Prosa und Poesie, baut sie in gewisser Hinsicht sogar ab und zieht den linguistisch allgemeineren und tiefer liegenden Begriff »Text« vermittelnd vor, wie sie auch lieber vom »schreiben« als vom »dichten« spricht. Dazu kommt, daß experimentelle Literatur ihre Versuche nicht wie die manieristische aus der Möglichkeit dieses oder jenes dekretierten Manuals symbolischer Funktion entwickelt, sondern vor dem Hintergrund gewisser aus erkenntnistheoretischem Zwang hervorgegangener Theorien, die die gesamten Kommunikationsfähigkeiten des linguistischen Materials betreffen.
Sieht man von Eugen Gomringer, Ludwig Harig, Reinhard Döhl und Helmut Heissenbüttel ab, so sind unter den jüngeren deutschen Autoren, die mehr oder weniger eindeutig dem Bereich experimenteller Literatur zuzuordnen sind, vor allem Hans G. Helms, Claus Bremer, Bazon Brock, Franz Mon, Jürgen Morschel und Gerhard Rühm, neuerdings auch Jürgen Becker und Ferdinand Kriwet bekannt geworden. Literarisch sind sie außer von den Genannten stark von Hans Arp und Kurt Schwitters, von den Konkreten und den Dadaisten abhängig. Auf dem theoretischen Hintergrund ihrer visuellen, materialen, seriellen, stochastischen, automatischen und vibrativen Techniken erscheinen wiederum mehr oder weniger deutlich Reflexe der Struktur - und Gestalttheorie, Kommunikationsforschung, Wahrnehmungslehre. Allgemeine Semantik und gelegentlich sogar statistische Linguistik, informationelle Ästhetik und Texttheorie, überhaupt Überlegungen, die dem weiten Feld der Kybernetik angehören.
Sofern nun »movens« eine erste Sammlung von Dokumenten gegenwärtiger vor allem jüngerer und deutscher experimenteller Literatur darstellen soll, ist es von vornherein richtig gewesen, neben dem produktiven Aspekt auch den reflexiven auftreten zu lassen, Ergebnisse im Zusammenhang mit der Theorie zu zeigen oder wenigstens zeigen zu wollen. Demgemäß war es nicht angemessen, wie es Krolow (im wesentlichen zustimmend) und Enzensberger (im wesentlichen ablehnend) getan haben, diese Publikation vom üblichen Begriff des Literarischen her zu kritisieren; in ihren Ausführungen wird als purer Manierismus verstanden, was als Experiment gedacht war, und sie stellten voreilig Stilüberlegungen an, wo eine Erörterung der theoretischen Einstellung am Platze gewesen wäre.
»movens« beschränkt sich indessen nicht auf die neuartigen Versuche, Texte zu schreiben. Es werden die entsprechenden Probleme der Malerei, der Fotografie, der Musik und der Architektur berührt. Gerade darin zeigt sich das Experimentelle, das von Theorien abhängig ist, daß es künstlerische Techniken zu verallgemeinern trachtet, also ästhetisch produktive Grundprozesse anerkennt, die in diesen oder jenen Medien durchführbar sind. Die »Ideogramme« Diter Rots, die »Kalligramme« Klaus Peter Diensts und »Texte« Franz Mons sind sprachliche Gebilde, die nicht mehr nur gesprochen und auch nicht mehr nur geschrieben zu werden brauchen, sie müssen auch wahrgenommen werden können mit dem Auge, um als das erkannt zu werden, was sie sein wollen. Es sind also »visuelle Texte«, wie man in der Allgemeinen Texttheorie sagt. Ihre Übertragbarkeit gelingt im Fernsehen, nicht in einem bloßen Hörprogramm. Was jedoch von den genannten Autoren gebracht wird, ist nicht neu. Die Verschmelzung von Text und Typographie zeigt hier wenig Ursprünglichkeit. So etwas gibt es bei Schwitters, Arp, Ponge u.a. wesentlich besser und ursprünglicher und die Probleme der Artikulation und Vibration, die hier in ihrer Beziehung zur Malerei Vasarelys auftreten, sind z.B. von Gertrude Stein, übrigens im Zusammenhang mit Picabia, wie man in der »Autobiographie von Alice B. Toklas« nachlesen kann, sehr gründlich erörtert worden, ganz davon abgesehen, daß sich bei ihr etwa in »Ten Portraits« oder in »As a wife has a cow« Texte finden, in denen das ästhetische Problem der Vibration und Artikulation wundervoll gelöst ist. »movens« enthält von Gertrude Stein eine Art Textspiel mit dem Titel »Ein Spiel was nicht und nun heißt«, eine vorzügliche Übersetzung. Zweifellos bilden die Texte Gertrude Steins, Kurt Schwitters und Emmet Williams die besten Auswahlen in diesem Buch: sie lassen tatsächlich offenbar werden, daß die ästhetischen Prozesse der Sprache primär ihrer materialen Eigenwelt, nicht der Außenwelt, über die gesprochen wird, angehören. Daneben wirken die Texte Mons, Claus's und Bremers oder Rots ziemlich albern, selbst wenn sie von diskutierbaren Prinzipien ausgehen. Zu erwähnen ist jedoch noch Bazon Brocks reflektierender Text »Ein glänzendes Alleinsein« und Peter Weiss' mit »Prosa« überschriebener quasi-epischer Text. In ihrer festen Langzeiligkeit demonstrieren diese Texte sehr deutlich die grundsätzlich lineare Entstehung und Struktur dessen, was im linguistischen Eigenmedium der Sprache als Wort, Satz, Phrase, Periode usw. sich bildet.
Was von der neueren Malerei her in »movens« aufgenommen wurde, sollte wohl zeigen, in welchem engen Zusammenhang strukturelle und informationelle Probleme des Textbaus mit entsprechenden der jüngeren bildenden Kunst stehen. Mit diesem Übergang sollte die an und für sich richtige Beobachtung eingebettet werden, daß moderne Texte eine Neigung haben, visuelle Texte zu sein, anders gewendet: daß für das moderne Bewußtsein die Wahrnehmungswelt wesentlich Augenwelt ist oder daß das Sehen die Reflexion wieder einholen soll. Doch halte ich in dieser Hinsicht lediglich die Anführung Vasarelys und Tinguelys für wichtig. Was Gaul und Hajek oder Brüning, deren malerische und plastische Tendenzen und Fähigkeiten zweitrangig sind, im Zusammenhang des Buches sollen, bleibt unerfindlich.
Im Prinzip wichtig und interessant ist der Aufsatz von Karl Otto Götz »Vom abstrakten Film zur Elektronenmalerei« soweit die neuartige Konzeption einer Elektronenmalerei zunächst nicht mehr meint, als ein malerisches Arbeiten mit dem Elektronenstrahl etwa eines Oszillographen. Was Götz darüber hinaus anstrebt, um die bei jeder Projektion auftretenden Raster bzw. Rastermodulationen zur Erzeugung ästhetischer Information auf Bildschirmen auszunützen, ist mir nicht recht klar geworden. Ich nehme an, daß Götz bei der malerischen Ausnützung von Rastern an jene Autokorrelationsvorgänge in ebenen zweidimensionalen Bildvorlagen denkt, die von Wolfgang Meyer-Eppler schon 1955 auf dem dritten Symposion für Informationstheorie in London erörtert wurden. Obwohl ich die Terminologie von Götz nicht ganz übersehe, scheint mir sein Beitrag in »movens« sich dadurch auszuzeichnen, daß er relativ radikal von der ästhetisch produktiven Verwendung gewisser kybernetischer Vorgänge bzw. Methoden ausgeht. Er steuert als Maler Möglichkeiten an, die den sich dafür haltenden Textpraktikern oder Texttheoretikern wie Mon, Rot, Brock, Bremer, Claus und Höllerer höchstwahrscheinlich ziemlich unbekannt geblieben sind: ich meine die Aussteuerung stochastischer Texte mit Hilfe programmgesteuerter elektronischer Rechenanlagen bzw. den Aufbau logisch (d.h. durch wahr und falsch) oder auch ästhetisch (d.h. durch gewisse Häufigkeitsverteilungen in den gespeicherten Subjekten, Prädikaten etc.) bewertbarer Texte mit diesen Maschinen.
Ich bin der Auffassung, daß gerade das, was in »movens« als experimentelle Literatur auftritt, weder als Text noch als Theorie das ästhetische oder das wissenschaftliche Niveau besitzt, das heute in diesem Bereich möglich ist. Gemessen an dem, was Theoretiker wie Guirand und Meyer-Eppler aus dem Gebiet der Kommunikationstheorie und Statistischen Linguistik in ihren »movens«-Beiträgen zu einer möglichen Erweiterung der heutigen künstlerischen Produktivität beigetragen haben, wirkt doch das, was z.B. Mon bringt, unbedeutend, und weit hinter Heissenbüttels »Textbuch 1« zurückbleibend. Walter Höllerers Essay über »Movens und Parabel« verrät natürlich sofort die Herkunft aus den Bezirken üblicher literaturwissenschaftlicher Interpretation, aber seine Ausführungen sind im Rahmen ihrer kategorialen Vorstellungen klar und schön formuliert, ganz davon abgesehen, daß dieser Beitrag notwendig ist, um die Beziehung der kybernetischen Begriffsbildung zur geisteswissenschaftlichen herzustellen.
Fast bin ich auch der Meinung, daß das Zurückbleiben der ästhetischen Qualität der in »movens« auftretenden experimentellen Literatur hinter den heutigen subtilen Möglichkeiten der allgemeinen und abstrakten Texttheerie mit der geringen Kenntnisnahme dieser jungen Autoren, soweit sie in dem Sammelwerk vorgestellt werden, zusammenhängt. Ich verstehe nämlich nicht, wie man die Fucks'sche Theorie der Wortbildung aus Silben und der Silbenbildung aus Lauten oder die Shannon'sche Approximation der Worte aus Buchstaben bzw. der Sätze aus Worten in diesem Buch hat vernachlässigen können, um nur die wichtigsten der Unterlassungen zu nennen. Sowohl bei Fucks wie auch bei Shannon deuten sich Möglichkeiten an, die nicht nur zur Begründung einer komplexen [korr. statt: kompletten, die Hrsg.r] Theorie auf statistischer und informationstheoretischer Grundlage ausreichen, sondern durchaus zukünftigen Konzeptionen künstlerischer Textherstellung dienen. Erst mit Hilfe der statistischen und informationellen Texttheorie, wie sie von Guiraud, Herdan, Fucks, Shannon, Mandelbrot u. a. ermöglicht wurde, kann man ziemlich genau mit abstrakten Mitteln beschreiben, was ein konkreter, ein serieller oder ein stochastischer Text ist, aber auch klassische Hexameterstrukturen verschiedener Autoren ästhetisch miteinander vergleichen.
Experimentelle Literatur ist offenbar intuitiv nicht zu meistern. Seit Markoff - und das heißt mindestens seit 1914 - wissen wir, daß die materiale Eigenwelt der Texte auf einer statistischen Buchstaben- und Wortverkettung beruht. Indem bekannt wurde, wie sie darauf beruht, ergaben sich von vornherein auch synthetische Textmöglichkeiten, die jedoch von den »movens«-Autoren nicht ausgenützt wurden. So verstoßen diese jungen Autoren gegen den Grundsatz experimenteller Literatur: auf der Höhe der Theorie zu sein. Es ist bekannt, daß in dem Maße wie Logik und Grammatik die natürliche oder triviale Kommunikationsfähigkeit der Sprache begründen, die Statistik der Buchstaben, Silben und Worte, also ihre Häufigkeitsverteilung jedoch die ästhetischen Zustände ausmacht. Ästhetische Häufigkeitsverteilungen, die sich in dieser oder jener Hinsicht als extreme zu erkennen geben, können heute durch ein bewußtes wie auch durch ein maschinelles Eingreifen in sprachliche Repertoire Zufallsgeneratoren erzielt werden. Kybernetische Kunst, kybernetische Texte, Prosa und Poesie treten damit ins Gesichtsfeld. Wie weit es sich bei ihnen um bloße menschliche Analogien handelt oder um eine ursprüngliche Maschinenproduktivität, hängt davon ab, wie weit wir selbst die maschinellen Möglichkeiten rational in der Hand halten. Daß es sich aber bei der hier wenigstens anvisierten Art experimenteller Literatur um ein im Prinzip verteidigungswürdiges Unternehmen schöpferischen Geistes handelt, erhellt daraus, daß Ihre Vorgänge und Ergebnisse echte Kommunikationsketten sind, auch wenn sie inhaltsreich(e?) oder formale Gesichtspunkte irrelevant werden lassen und vorwiegend die Funktion des »Machens« bestätigen. Im »Machen«, der Kunst als »hergestellter Objektivität«, erscheint die Kommunikationskette als das, was wir eine »Realisationskette« nennen.
Es war eine vorzügliche Idee dieses Buch zu machen. Es ist schade, daß seine Verwirklichung zu einem so hinfälligen und nutzlosen Gebilde führte. Doch schließt das nicht aus, die Idee noch einmal zu haben. Vielleicht sollte man aus »movens« ein Jahrbuch machen oder eine Anthologie, die alle zwei oder drei Jahre erscheint.
Eingegangen am 7.l0.1960
[Grundlagen aus Kybernetik und Geisteswissenschaft, Jg 1, Nr 1, Oktober 1960, S. 122-126]
|