Günter Eich
DENKE DARAN ...
Denke daran, daß der Mensch des Menschen Feind ist
Und daß er sinnt auf Vernichtung,
Denke daran immer, denke daran jetzt,
Während eines Augenblicks im April,
Unter diesem verhangenen Himmel,
Während du das Wachstum als ein feines Knistern zu hören glaubst,
Die Mägde Disteln stechen
Unter dem Lerchenlied,
Auch in diesem Augenblick denke daran!
Während du den Wein schmeckst in den Keller, von
Randersacker
Ode, Orangen PflÜckst in den Gärten von Alicante,
Während du einschläfst im Hotel Miramar nahe dem Strand von Taorrnina,
Oder am Allerseelentage eine Kerze entzündest auf de, Friedhof in Feucltwangen,
Während du als Fischer das Netz aufholst über der Doggerbank,
Oder in Detroit eine Schraube vom Fließband nirnmst,
Während du Pflanzen setzt in den R,is-Terrassen von Szetschuan,
Auf dem Maultier über die Anden reitest, -
Denke daran!
Denke daran, wenn eine Hand dich zärtlich berührt,
Denke daran in der Umarmung deiner Frau,
Denke daran beim Lachen deines Kinde,!
Denke daran, daß nach den großen Zerstörungen
Jedermann beweisen wird, daß er "schuldig war.
Denke daran:
Ni,genc'wo auf der Landkarte liegt Kore, und Bikini,
Aber in deinem Herzen.
Denke daran, daß du scliuld bist an allem EntEetzlichen
Das sich fern von dir abspielt -
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Wystan Hugh Auden (geb. 1907)
AUS DEM WEIHNACHTSORATORIUM
Wenn es, der politischen Lage zufolge, zahlreiche Häuser ohne Dach gibt und Menschen, die herumliegen, ohne zu schlafen oder betrunken zu sein, wenn alle Seereisen bis auf weiteres untersagt sind, wenn es jetzt nicht klug ist, zuviel in Briefen zu schreiben, und wenn im gegenwärtig herrschenden rauhen Klima die Schwachen und die Starken die beiden Geschlechter sind, so ist das nicht ungewöhnlich in dieser Jahreszeit.
Wäre das alles, würden wir schon fertig werden damit. Flut, Feuer und Dörre, die Einkerkerung von Fürsten, Piraterie auf den Meeren, Folterung und Steuerdruck sind längst unsere gewohnten Bedrängnisse, wir stehen sie durch seit urdenklichen Zeiten.
Diese Ereignisse, die zur Realität der Welt gehören, in welcher die Besetzung des Raumes das endgültige Faktum ist und die Zeit sich nur um sich selber im Kreis dreht, geschehen immer und immer wieder in der Abfolge der größten Gegensätze: dem Schwert folgt der Pflug, dem Sarg die Wiege, dem Krieg der Aufbau.
Nehmen wir alles in allem, webt sich ein Muster aus Zehntausenden Möglichkeiten, die ständig eintreten: im großen und ganzen genommen immer dasselbe. Bis vor kurzem kannten wir nichts andres, es schien uns klar, was erstrebenswert war - der traumhaft sichere Mut des Tigers, der Takt des Chamäleons, die Bestheidenheit des Rehs, die Anpassung des Farnkrauts an seine Umgebung. Seine persönliche Bürgerpflicht zu erfüllen, war infolgedessen gar nicht so unmöglich: unsere Verluste abzuschreiben und die Toten zu bestatten, war eine gewohnte übung. So konnten wir ja auch stets sagen: Wir sind Kinder Gottes, unser Vater hat noch niemals sein Volk verlassen.
Aber da waren wir Kinder: noch im Augenblick, bevor bestürzend Neues in unser Leben trat.
Warum wurden wir nie gewarnt? Vielleicht wurden wir's. Vielleicht durch jenes unerklärbare Geräusch manchmal im Hinterkopf, wenn wir allein im Warteraum
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