Gesehen hat ihn schon jeder, oder etwa nicht? »Mama guck mal, ein Nackter!« Ungläubiges Staunen, als Mama sich umdreht. »Hallo«, grüßt er freundlich die beiden. Der Kleine hat wirklich gute Augen. Er hat sofort gemerkt, daß die Kleidung, die der nackte Jörg trägt, nicht etwa aussieht, als hätte er keine an. Er trägt wirklich keine. Stimmt nicht ganz. Also, Sandalen trägt er schon im Winter, doch wirklich unverzichtbar ist nur sein Walkman, den er immer bei sich führt, manchmal sogar an einem Gürtel auf der bloßen Haut befestigt.
Was treibt den Jörg dazu ? Wir wissen es nicht. Seit Jahren holt er sich keine Erkältung, selbst wenn es im Januar eisig kalt ist. Da kann man ihm auch schon mal auf dem Eisernen Steg begegnen.
Er hat es immer eilig, und doch genießt er es, gesehen zu werden. Sein Anblick ist für die toleranten Frankfurter kaum schockierend, die meisten lächeln darüber. Für Touristen indes ist er eine willkommene Abwechslung vor der Kameralinse. Probleme hat der nackte Jörg mitunter mit Migranten, die unser Verständnis von Toleranz nicht teilen. Da wird ihm manchmal Prügel angedroht, obwohl er keiner Fliege etwas zuleide tut. Ein Exhibitionist im üblichen Sinne ist er nicht, ihm genügt die bloße Beachtung der Nacktheit seiner Person als Anerkennung.
Daß er bei seinem Auftreten mehrfach Bekanntschaft mit der Polizei machen muß, nimmt er gelassen hin. Kein Gesetz in Deutschland gebietet die Verpflichtung, Kleidung zu tragen. So ist er nach kurzem meist wieder auf der Straße. Unter den Frankfurter Gastronomen gibt es nur wenige, die einen Besuch Jörgs in ihrer Wirtschaft dulden.
Irgendwie hat der Jörg schon den Kultstatus: Es gibt schon T-Shirts mit seinem Motiv, im Karneval war er Thema bei den Büttenrednern, und er wurde auch schon künstlerisch fotografiert. Leicht hat er es nicht, auch wenn viele meinen, »der hat doch ne Macke«. Jörg bleibt dabei, daß er am liebsten nackt durch die Strassen rennt. Und wir bleiben dabei, daß wir da lieber angezogen bleiben. So einfach ist das hier in Frankfurt. Tolerant und frei.
|