br
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LEUTE SAGEN sich oft seltsame Dinge, besonders in
der Technik:
«Br.» - «Br?» - «Br!»
Wer «Br» sagt, sagt etwas, so viel steht nach diesem
Minidrama fest. Aber was? «Br» gehört zu den
vielsagenden Lauten, wir machen ihn gerne: Die
Suchmaschine Google findet für den Suchbegriff «Brr» 78
500 Einträge. «Brr» tritt im surrealistischen Theaterstück
ebenso auf wie im realistischen Wildwestfilm, wo es rauen
Kehlen entschlüpft, sobald Pferde gestoppt werden
müssen: «Brrrrr.»
Auf der Strasse kann man das Schnarrgeräusch hören,
wenn ein meteorologisches Verhängnis zu beklagen ist:
«Brrr, kalt heute.» Und selbstverständlich existiert das
allgegenwärtige «Br» auch in der EDV. Man äussert damit
den Wunsch nach einer neuen Zeile: »br«.
Hiermit geschehen. Aber manchmal geschieht es eben
nicht. Während das «br» in der Mensch-Tier-Beziehung
keine Fragen offenlässt und in der
Mensch-Mensch-Interaktion zuverlässig
Verständigungsprozesse einleitet, gibt es an der
Mensch-Maschine-Schnittstelle Rätsel auf. Dann entsteht
Leidensdruck, und Leidensdruck wird in der Technik
durch Lektüre überwunden. Warum, wieso und vor allem
wann schreibe ich »br«?
Techniker brüten oft in für ihre Art charakteristischen
Papiernestern. Über einer dicken Schicht aus
aufgeschlagenen Fachbüchern liegt eine dünnere Lage aus
Selbstgedrucktem: allgemeine Standards und
Spezifikationen, unverbrüchliche Worte letzter Instanzen,
formuliert in rätselhaften Formelsprachen. Dann gibt es
noch speziellere Bulletins wie die «Request for
Comments», kurz RFCs genannt. In denen teilen sich die
Ingenieure allerletzte Neuigkeiten mit.
Damit kein unpräziser Plauderton einreisst, wurde sogar
der tiefere Sinn von Wörtern wie «müssen», «sollen»,
«empfohlen» und «verboten» in einem eigenen Papier
(RFC 2119) definiert. Kein Wunder, es geht schliesslich
um so grosse Dinge wie das Internet, das aus so kleinen
Teilchen wie dem «br» zusammengesetzt ist. «The BR
element forcibly breaks (ends) the current line of text»,
sagt der HTML-Standard: »br«!
Das ist aber in der Computerei beileibe nicht der einzige
Weg zu einer neuen Zeile. Manchmal muss man «n»
sagen, dann wieder darf es «CRLF» oder sonst was sein.
Eine Empfehlung ist also immer willkommen: «Wenn du
eine neue Zeile willst, kannst du hier kein Backslash-n
nehmen. Du musst ein BR hinschreiben.» - «Etwa das BR
aus dem HTML-Standard?» - «Ja, natürlich, genau dieses
BR!» Techniker drücken das natürlich nicht so
weitschweifig und umständlich aus, sondern klar und
direkt: «Br.» - «Br?» - «Br!»
Oft genug erschöpft sich Technik darin, winzige Hürden
mit einem Riesenanlauf zu überspringen. Da alle Berufe
Verschwörungen gegen die Laien sind (George Bernard
Shaw), fällt es nicht weiter auf.
Franz Zauner
aus NZZ-Folio vom September 02.