Warzenhof
Bewertung: 2 Punkt(e)Als ich in den Kindergarten kam, erkrankte meine Mutter an einem ekelerregenden Ausschlag. Gut, es war ein vergleichbar harmloses Ekzem, das sich in rötlichen Flecken auf ihren Beinen äußerte; auch weiß ich nicht mehr, ob meine Übersendung in den Kindergarten wirklich in einem so engen zeitlichen Bezug zu dieser Tatsache steht, aber - und da muß ich mich mal selber loben - der Einleitungssatz hat Sprinterqualitäten und macht Lust auf mehr. Lebenserinnerungen irgendwelcher Österreicher könnten so anfangen. Österreicher stehen auf so etwas, glaube ich. Jedenfalls war die Praxis des Hautarztes, eines Dr. Miethke, in relativer Nähe zum Kindergarten gelegen und so verband meine Mutter des öfteren die zwei Gänge des Arztbesuchs und meiner Abholung, so daß ich in frühen Jahren Gelegenheit bekam, das Wartezimmer eines Spezialisten für Haut– und Geschlechtskrankheiten kennenzulernen. Ich wußte ziemlich genau, was eine Geschlechtskrankheit ist; recht früh mit der Fertigkeit des Lesens vertraut, zählte das voluminöse Hausbuch 'Der neue Weg zur Gesundheit' mit seinen zahlreichen farbigen Illustrationen und der faszinierend bunten Ogino-Knaus–Tabelle, die aus zwei drehbaren Scheiben bestand, mit der ich so schön Zahlen auslosen konnte (frühe Studien zur Wahrscheinlichkeitsrechnung, beschränkt auf den überschaubaren Zahlentaum von 28, bzw. 31 Zahlen) zu meiner erklärten Lieblingslektüre. Wenn ich nun dort im Wartezimmer saß und – wie bei einem solchen Arzt selbstverständlich – nicht in den dort ausliegenden Zeitschriften blätterte, hatte ich oftmals Zeit und Gelegenheit, die übrigen Wartenden zu mustern und in Gedanken in Haut– und Geschlechtskranke zu trennen. Männer standen immer unter meinem Generalverdacht, venerisch infiziert zu sein, ich hätte mir auch nicht vorstellen können, daß eine Syphilitikerin die Courage besessen hätte, zu normalen Sprechzeiten in einem Wartezimmer zu sitzen als ob nichts wäre, viel eher ginge sie des nachts in den Stadtwaldteich, der mir ob seines sehr steilen und tiefen Wehres stets als eine ideale Stätte zur Selbsttötung erschien. Die Männer also: Mehrheitlich aus dem Gliede eiternd, wenn nicht ein verstohlenes Handkratzen oder eine sichtbare Papel meine Fantasie in andere Bahnen lenkte. Die Frauen dagegen: Vermutlich flechtenüberzogen, die Beine mit schuppigem Rot entstellt, was auch erklärte, warum so viele Frauen mit blickdichten Strumpfhosen zu sehen waren. Da Dr. Miethke ein altmodischer Arzt war, der die Früchte seiner Steuerabschreibungen noch nicht in Form mehr oder weniger scheußlicher Grafiken an die Wände hing, hatte ich auch die Möglichkeit, auf Schaubildern Abbildungen mikroskopischer Präparate zu bestaunen, die verschiedene Viren– und Bakterienstämme zeigten, und das in Farben, die den von mir imaginierten Krankheiten der Patienten verblüffend ähnelten. Im Großen und Ganzen habe ich die Wartezeiten bei Dr. Miethke sehr genossen und wenn ich mit Mutter nach Hause ging, trug ich im Kopf das Bild einer Gesellschaft der verborgenen Laster und Makel, die so vielgestaltig und buntscheckig war, daß alle Filzstifte der Welt nicht ausgereicht hätten, diese geheimnisvolle Welt wiederzugeben.