Urninde
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Was-soll-das-Volk-vom-dritten-Geschlecht-wissen?
»Neben der echten originären Homosexualität bei Männern hat diejenige bei Weibern eine viel geringere Bedeutung, weil sie ohne Zweifel viel seltener ist als jene. In Vergleichung mit der Zahl der Urninge ist die Zahl der weiblichen Homosexuellen, der «Urninden» oder «Lesbierinnen» oder «Tribaden», eine relativ kleine, während umgekehrt bei Frauen auch im späteren Alter die sogenannte «Pseudo-Homosexualität» weit häufiger vorkommt als bei Männern. Für den heterosexuellen Mann ist es meist unmöglich, sich in homosexuelle Empfindungsweise hineinzuversetzen oder gar homosexueller Betätigung Geschmack abzugewinnen, der heterosexuellen Frau fällt dies ohne Zweifel viel leichter, ja Zärtlichkeiten und Liebkosungen spielen auch zwischen normalen heterosexuellen Frauen eine Rolle, die uns das Verständnis für das leichte Auftreten pseudohomosexueller Neigungen erleichtert. Trotzdem läßt sich an der Existenz echter originärer Homosexualität bei Frauen nicht zweifeln. Das sind jene Fälle, wo wie bei Urningen der gleichgeschlechtliche Trieb schon aus frühester Kindheit, oft lange Zeit vor der Pubertät auftritt, wo auch im äußeren Habitus das Mädchen sich von den heterosexuellen Kameradinnen unterscheidet, Anklänge an den männlichen Körperbau vorhanden sind (schwache Entwicklung der Brüste, geringere Beckenbreite, Entwicklung eines Schnurrbarts, tiefe Stimme usw.) oder diese auch fehlen können und die Mädchen sich durch nichts als die perverse Richtung des Sexualtriebs von anderen Mädchen unterscheiden. Diese echten Tribaden sind viel seltener als die unechten, die Pseudolesbierinnen. Wenn man z. B. einen Urningsball besucht, ist man sicher, daß 99% der dort versammelten männlichen Homosexuellen echte Homosexuelle sind, auf einem Urnindenball — auch solche gibt es in Berlin — ist sicher ein viel kleinerer Prozentsatz «echt», das Gros setzt sich aus weiblichen Pseudohomosexuellen zusammen.«
Iwan Bloch: Das Sexualleben unserer Zeit. Berlin 1909 (S. 581 ff.)