Sie-liebt-uns-nicht-mehr
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Eins steht fest : Während der eine schläft, ist der andere unweigerlich mit seinen Möglichkeiten der Zukunft auf der Spur.
Was tun Eltern wenn ihre Kinder schlafen? Sie versuchen, Zeichen zu entschlüsseln. Schleichen auf Zehenspitzen über vermintes Gelände und sind bereit, Tretminen mit der Spitze eines Taschenmessers auszugraben.
Und so habe auch ich, indem ich über den Fussboden krieche, die wohlmeinende Absicht, die Fallen des nächsten Tages zu entschärfen.
Ich hole ihren Mantel aus dem Schrank für den Fall, dass es morgen kalt wird. Allerdings nicht den langen schwarzen Mantel, mit dem sie aussieht wie eine russische Gräfin, sondern den grauen Kurzmantel, mit dem sie einer französischen Studentin ähnelt, denn nach Schnee sieht es wirklich überhaupt nicht aus. Für den Fall, dass es regnet, stelle ich ihre Gummistiefel raus, aber dann stelle ich auch ihre hohen Lederstiefel raus für den Fall, dass es nicht regnet.
Aus ihrem Schrank nehme ich drei völlig unterschiedliche Kleider, da ich an drei verschiedene Temperaturen denke, die alle möglich sind. Ich suche ihre Handschuhe, aber ich finde sie nicht. Dafür finde ich ihre Sonnenbrille und sage mir, dass man sich morgen aller Wahrscheinlichkeit eher um die Sonne als um die Gedanken machen muss.
Ich gehe auf den Flur, um alle Notausgänge ausfindig zu machen, doch ich finde nichts weiter als die Haustüre. Ich würde mir gerne vorstellen, dass sie dasselbe tut, während ich schlafe...
Sie sagt : »Wovor hast du solche Angst?«
»Wahrscheinlich vor mir selbst in vielen, vielen Jahren. Davor, für alles was ich jetzt sage oder tue, gerade stehen zu müssen. Davor, mein Gesicht in all diesen Städten zu sehen. Davor jedes Mal, wenn ich nach Berlin oder Münster oder wohin auch immer zurückkehre, diesem Gesicht wiederzubegenen.«
Sie fragt : »Und was ist mit meinem Gesicht? Hast du auch solche Angst, ihm wiederzubegenen?«
»Nein, dein Gesicht ist immer da.«
Sie : »Ich will kein Foto von dir machen. Ich will das du auf den Fotos zu sehen bist. Ich will das du aufhörst, dagegen anzukämpfen, dass du auf ihnen zu sehen bist. Ich will dich an meiner Seite, hier in Heinsberg, und zwar in vielen, vielen Jahren.«
Wir haben noch immer nicht gefrühstückt. Sie sitzt auf dem Boden und sieht ihre Fotos an. Ich stehe noch immer und trinke Bier. Ich weiss noch immer nicht, was mein Problem ist, aber ich nehme an, in vielen, vielen Jahren will ich nicht in Heinsberg sein. Ich nehme an, in vielen, vielen Jahren möchte ich irgendwo anders sein.
Wer weiss wie die Dinge nach Heinsberg sein werden? Es ist nicht verwunderlich, dass einer, der sich mitten in einer Phase seltsamer Freude befindet, auf die Gerüchte aus der Vergangenheit genauso verzichtet, wie auf die Gerüchte über die Zukunft. Mit derselben Besorgnis wie eine Familienmutter die Türen schliesst, damit keiner hereinkommt, und die Fenster, damit keiner abhaut. Und so sieht mein Leben an ihrer Seite all die Tage über aus : Ich schliesse um uns herum alle Luken. Ich schliesse die Türen, wie man die Schotten eines Schiffs dicht macht, das bereits leck geschlagen ist, aber nicht untergehen soll.
Woran denkt sie die ganze Zeit?
Ich weiss es nicht. Und wenn sie dazu etwas sagt, dann ist der Lärm meiner Angst wieder einmal zu gross und deshalb höre ich sie nicht.
Wer weiss? Ist es, wenn man liebt, nicht gerade die Liebe selbst, die einem am meisten Angst macht? Und wenn nicht, woher dann dieses ganze Misstrauen hinsichtlich der zukünftigen Städte?
Auf jeden Fall sollte ich mal die Dosis und die Qualität meiner Aufputschmittel überprüfen, denn ich finde langsam keine Antworten mehr auf diese ganzen schwierigen Fragen.
»Du solltest mich viel mehr lieben!«
Selbstverständlich tue ich so, als hätte ich sie nicht gehört. Da schliesst sie den Regenschirm und wahrscheinlich ist hier alles vorbei...