Schwarmtherapie
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Seit gut zehn Jahren ist ein Selbsthilfeprojekt online, dessen ungewöhnlicher Therapieansatz neue Wege für offene Psychiatriekonzepte aufzeigen kann. Der Assoziations-Blaster ist nur auf den ersten Blick eine Schreibwerkstatt, dieses 'Kraftwerk der Gefühle' birgt auch die Keimzelle zu einer allfälligen Revolutionierung der Seelenforschung. 'Schwarmtherapie' heißt das Zauberwort, mit dem Alvar Freude und seine Mitstreiter die Psychologie 2.0 begründet und die Freud'sche Instanzenlehre vom Über-Ich, Ich und Es um den missing link bereichert haben.
Von Werner Donsbach
1. Teil: Ich bin krank, wir sind gesund
Wer den stämmigen Mittdreißiger mit dem Pferdeschwanz zum ersten Mal sieht, der uns die Tür zum Serverraum öffnet, würde kaum vermuten, dass es sich um den Schöpfer jener Maschine handelt, die für die Psychologie eine ähnliche Revolution darstellt, wie es das Grammophon für die Musik gewesen ist. Vor gut zehn Jahren entwicklete Alvar Freude gemeinsam mit Dragan Espenschied den Assoziations-Blaster, der heute auf dem Sprung steht, in Millionen Haushalten Partner und Psychologen zu ersetzen. Und das mit einem Prinzip, das ebenso einfach wie wirkungsvoll ist: Die kollektive Intelligenz des Netzes wird aktiviert und für jeden Nutzer individuell abrufbar gemacht durch eine persönliche Route durch den therapeutischen Verlinkungspfad, sanft gesteuert zwischen den Zufallsparametern einer sich selbst stabilisierenden Assoziationsmasse. »Nicht mehr: Ich heilt du, sondern: Wir heilt uns!«, wie es gleichermaßen verwirrend wie einprägsam auf einer Schlagzeile von 'Psychologie heute' hieß.
Die nackten Fakten verraten nur wenig von der explosiven Sprengkraft des neuen Ansatzes: Bei einem weltweiten Forschungsprojekt zum Thema psychische Gesundheit und Internet stießen Experten der WHO auf eine 'dunkle, vermüllte Hinterhofstraße' im Netz, die jedoch eine erstaunliche Bilanz aufweisen kann: Nahezu alle Schreiber und Schreiberinnen des Assoziations-Blasters befanden sich zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens in psychologischer Behandlung, fast die Hälfte unter ihnen (bei den männlichen Blasteuren sind es fast 80 %) ist alkohol- oder drogenabhängig, Arbeitslosigkeit, berufliche und private Krisen bestimmen den Alltag der meisten Blasternutzer und die Zahl der sexuell Devianten kann wegen der Anonymität eines Großteils unter ihnen nur geschätzt werden, dürfte aber bei überdurchschnittlichen 25-30 % liegen. Und dennoch bezeichnen diese Menschen sich als glücklich, leben unauffällig und getrennt voneinander quer durch die Republik und das deutschsprachige Ausland verteilt als eine Art virtueller Psychokommune, in einer fast morphogenetisch zu nennenden harmonikalen Gemeinschaft die einander Halt und Fürsprache gibt, wie es der Apostel Paulus ausdrückt: »Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.«
PeterK* berichtet: »Vor einigen Jahren war ich am Ende. Ich war seelisch ausgetrocknet, in einem ungeliebten Beruf in die hinterste ostdeutsche Provinz verschlagen, mein Sexualleben - wenn man es so nennen kann - beschränkte sich auf einen gelegentlichen Alltagsorgasmus, war jedoch ansonsten extrem angstbesetzt und unromantisch; natürlich kein Wunder, wenn-du-beim-Onanieren-an-Angela-Merkel-denkst- Und dann, eines Abends, als ich betrunken im Internet surfte, kam ich auf diese dunkelblaue Seite mit dem albernen Männchen...« Peters Leben veränderte sich von nun an zum Positiven. Konfrontiert mit für ihn oftmals schockierenden neuen An- und Einsichten, wurde er zunehmend entspannter. Heute ist er bekennender Gliedvorzeiger an mehr als 90 ostdeutschen Baggerseen, die knappe Restfreizeit verbringt er zumeist im Blaster; seit ihn seine Frau praktisch nicht mehr zu Gesicht bekommt, hat auch ihr Leben eine Wendung zum Besseren genommen.
Auch Oli P* machte Bekanntschaft mit dem Blaster, als der ungelernte Wanderhooligan am Boden war: Binnen kürzester Zeit hatte er Freundin, Haare und Familie durch eine Überschwemmung Westhollands im Rahmen der Klimakatastrophe verloren, als er auf der Suche nach Hinrichtungsbedarf und Opium-Haschischpillen zunächst widerstrebend in den Bann des Blasters geriet: »Und-ich-so-scheiss-auf-die-Scheisse...«, drückt es P* in seiner unverstellten Art aus, der inzwischen eine feste Anstellung als Zeugwart an der Rütli-Schule gefunden hat. Startete er nämlich als von Aggressionen und Frustration getriebenes aktionistisches Blastersubjekt, gelangte er im Rahmen einer für ihn arrangierten drogeninduzierten Triggerparty zu der durchgreifenden Erkenntnis: Wir-werden-alle-sterben, aber unsere Gedanken werden leben. Was auf den ersten Blick wie Entindividualisierung klingt, dem Unterwerfen unter ein stumpfsinniges Diktat aus einzugelbenden Stichworten in einem geisterhaften Heer aus Nicknameträgern, hat Menschen wie Oli P* und PeterK* vermutlich das Leben gerettet: Die kollektive Schwarmtherapie könnte, einmal implementiert, Millionen von Internetusern den Gang zu Psychiater und Friedhof ersparen.
Lesen Sie im zweiten Teil:
DuBistDochAuchNurDieSummeDerLeuteDieDuKennst + X - eine PERL-Formel als neuronaler Trojaner und: 3Points - weshalb die Pharma-Lobby die Freude-Maschine unbedingt verhindern wollte und warum der Blaster am 11. September 2001 erst off- und dann wieder online war