Märchenonkel schrieb am 1.1. 2018 um 16:54:17 Uhr zu
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Das Schindluder
An einem schönen Sommertag hatten sich einige Rehe zum Fressen auf einer kleinen Waldlichtung versammelt. Sie ahnten nicht, dass gerade ein böser Wilderer in der Gegend sein Unwesen trieb. Als ein Schuss ertönte, sprangen die Rehe eilig davon, alle bis auf eines. Mitten auf der Waldlichtung war es zusammengebrochen, wenngleich es von keiner einzigen Schrotkugel getroffen worden war. Nein, das arme Rehlein war vom puren Schreck ohnmächtig geworden. Als der Wilderer herantrat und das reglose Tier im Grase liegen sah, meinte er freilich, dass es tot sei. Also machte er sich daran, ihm nach Waidmannsart das Fell über die Ohren zu ziehen, um den schönen, rehbraunen Pelz an den Gerber zu verkaufen. Das abgehäutete Reh indes ließ er als Schindluder für die Raubvögel liegen, welche er später noch zu schießen gedachte. Nachdem der Wilderer wieder davongegangen war, kam das Rehlein indes langsam wieder zu sich. Ohne Haut zu sein war ein ungewohntes und völlig neues Gefühl, und das Rehlein hatte einige Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. Glücklicherweise hatte ihm der Wilderer seine lackschwarzen Hufe gelassen, doch die schönen, großen Ohren waren zusammen mit seinem Pelz abgezogen worden, so dass es nur noch Löcher zum Hören hatte, und auch das Blinzeln machte ihm einige Schwierigkeiten. Immerhin war es noch am Leben, wenngleich es so völlig abgehäutet nicht mehr ohne weiteres als Reh zu erkennen war. Einige Blätter klebten überdies an seinem wunden Körper, und zwei Eichhörnchen konnten es nicht mit ansehen, wie sich das Rehlein plagte. Rasch eilten die beiden Eichhörnchen zur Hilfe herbei, doch um das Rehlein von den Blättern zu befreien, mussten sie an seinen Beinen emporklettern. Ohne Haut war das Rehlein so empfindlich, dass es die kleinen Krallen der Eichhörnchen auf dem Körper ganz besonders spürte. Aber es ließ die beiden Racker sogar auf seinen Rehrücken herumturnen. „Könnt ihr mir eurem Pelz geben?“ fragte das Rehlein, als es von den Blättern befreit war. „Selbst unsere Pelze zusammengenommen sind leider zu klein für dich!“ sagte das eine Eichhörnchen. „Aber immerhin hat man in unserem Walde noch nie ein lebendiges Schindluder gesehen“, meinte das andere Eichhörnchen, „und wenn du dich auf die Suche machst, findest du vielleicht einen neuen Pelz, der dir steht!“ Während die beiden Eichhörnchen dem abgehäuteten Rehlein alles Gute wünschten, machte sich dieses traurig auf den Weg. Ohne Pelz war es in der Tat nichts als ein erbärmliches Schindluder und fühlte sich dabei unsagbar schutzlos. Im dichten Unterholz spürte es die leiseste Berührung der Tannenzweige, welche sein entblößtes Fleisch streiften, und unter dem freien Himmel brannte die Sonne unbarmherzig auf seinen geschundenen Körper. Disteln, Brennnesseln, Gestrüpp und selbst die Gräser waren eine Qual für das arme, geplagte Schindluder, und als es das Schilf überwunden hatte, stand es am Ufer eines Teiches, wo es sein Spiegelbild im Wasser betrachtete. Ach, wie erschrak es darüber, was es da sah, so dass es bitterlich zu weinen anfing. Denn so abgehäutet, fleischfarben und völlig ohne Ohren sah es längst nicht mehr so hübsch aus wie früher, und als solch ein Schindluder war es ganz und gar ausgeschlossen, jemals das Herz eines schnuckeligen Rehbocks zu erobern. Aber wenigstens konnte es den fiebrigen Körper ein wenig im flachen Wasser kühlen. „Schindluder, Schindluder, was bist du ein hässlich Tier! Schindluder, Schindluder, bist noch nackter selbst als wir!“ spotteten die Frösche, so dass es sich wieder aufrichtete und die Suche nach einem schützenden Pelz fortsetzte. Als es den anderen Rehen begegnete, rannten sie alle vor Schreck davon, weil das Schindluder ein gar zu entsetzlicher Anblick war. Aber auch die übrigen Tiere des Waldes mochten nichts mit dem geschundenen Rehlein zu tun haben. Und einen Pelz wollte man ihm schon gar nicht zur Verfügung stellen, denn schließlich wollte keines der Tiere frieren, wenn einmal irgendwann der Winter vor der Tür stand. Sogar der Igel zog sich in seinen Stachelpanzer zurück, und nicht einmal die Eidechse, die kein einziges Haar am Körper hatte, war bereit, dem Rehlein ihre Schuppenhaut zu geben. Zu Tode betrübt setzte das arme Schindluder die hoffnungslose Suche nach einer neuen Haut fort. Da ihm das Blinzeln solch beträchtliche Mühe bereitete, brannten ihm inzwischen bös die Augen, an seinem wunden Körper klebten Gräser und Distelwolle, und die Fliegen plagten es in der sommerlichen Hitze. Überdies war das Schindluder Luft und Sonne so schutzlos preisgegeben, dass sein entblößtes Fleisch langsam trocken zu werden drohte. Entkräftet und fiebernd gelangte es schließlich an einen kleinen Bach, der einen Felsen hinabplätscherte, und es war eine Wohltat für das Rehlein, das eiskalte Wasser über den heißen, geschundenen Körper rinnen zu lassen. Ein Wolf schaute aus der Nähe zu, und was er sah, gefiel ihm sehr. Als das Rehlein sich abgekühlt hatte, trat es sauber und erfrischt aus dem Wasserfall heraus, um sich im Wasser des Baches zu betrachten. “Ich war so ein hübsches Rehlein“, schluchzte es, „doch nun bin ich nur noch ein hässliches Schindluder!“ „Mag sein, dass du ein Schindluder bist, aber hässlich bist du keineswegs,“ sagte da freundlich der Wolf, während er zu dem Rehlein herantrat, „denn gerade so entblößt finde ich dich sogar außerordentlich hübsch!“ „Ist das wirklich wahr?“ fragte das Rehlein ungläubig. „Vertrau mir, ich weiß wovon ich spreche.“ entgegnete der Wolf, „Aber auch wenn ich dir meinen eigenen Pelz nicht geben kann, so verspreche ich dir doch, ganz besonders zärtlich zu dir zu sein, dir den wunden Rehrücken zu lecken und dich im Winter zu wärmen. Doch dazu musst du meine geliebte Braut werden!“ Das Schindluder konnte sein Glück kaum fassen, als der Wolf es zärtlich am Hals küsste. „Jaaa“, sagte das Rehlein glücklich, „ich werde deine Braut sein!“ Gemeinsam mit dem Wolf zog sich das Schindluder in die Tiefe der Wälder zurück, und wurde seither von niemandem mehr gesehen.