Alzheimer schrieb am 7.10. 2006 um 03:17:28 Uhr zu
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SEXUALITÄT
»Es ist einfach Schicksal«
Von Bruno Schrep
Bilder mit sexuellen Phantasien überschwemmen zwanghaft sein Hirn: Ralf P. ist pädophil, kämpft gegen seine verhängnisvolle Neigung. Für Männer wie ihn gibt es jetzt Hilfe.
Als sich das Mädchen, sommerlich leicht bekleidet, auf den Platz direkt ihm gegenüber setzt, ihn auch noch freundlich anlächelt, reagiert Ralf P. hektisch. Sein Herz beginnt zu rasen, sein Atem geht schnell und stoßweise. Schweiß bricht ihm aus.
Er versucht wegzugucken, schafft es aber nicht. Starrt das Mädchen an, minutenlang. Steht abrupt auf. Steigt an der nächsten Haltestelle aus dem Bus - obwohl er sein Ziel längst noch nicht erreicht hat. Eine Stunde läuft P. ziellos durch die Stadt, er ist ein Mann auf der Flucht vor sich selbst.
Situationen wie diese erlebt Ralf P. immer wieder. Im Restaurant. Auf einer Kaufhausrolltreppe. Im Aufzug. Mitten im Supermarkt. Und jedes Mal fragt er sich hinterher: »Warum ich? Verdammt noch mal, warum gerade ich?«
Die Mädchen, die ihn in heillose Aufregung versetzen, ihn alles um sich herum vergessen lassen, sind jung, viel zu jung: zehn, elf, höchstens zwölf Jahre alt.
Ralf P. ist pädophil.
»Ich hasse meine Neigung«, stößt er hervor, »ich finde sie zum Kotzen.« Und, nach einer kleinen Pause: »Aber ich hab nie ein Kind missbraucht.«
Der untersetzte Mittfünfziger, dunkelblond, mit grauen Schläfen, sitzt in einem Raum der Berliner Charité. Ein unauffälliger, umgänglicher Mann mit Allerweltsgesicht. Besondere Kennzeichen: keine.
Vor ihm auf dem Tisch liegt ein Fragebogen. Ralf P. bemüht sich, wahrheitsgemäß auf Fragen zu antworten, die ihm lästig und peinlich sind: »Wie alt sind Ihre Sexualpartner in Ihrer Phantasie?« »Wie bezeichnen Sie sich selbst in sexueller Hinsicht? Als normal? Als pervers?« »Woran denken Sie, wenn Sie onanieren?«
»Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch im Dunkelfeld« heißt das Forschungsprojekt am Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin, an dem Ralf P. teilnimmt. Hinter dem komplizierten Titel verbirgt sich ein ehrgeiziges Ziel: Pädophile Männer sollen dazu gebracht werden, ihre auf kleine Jungen oder kleine Mädchen fixierten sexuellen Wünsche niemals auszuleben.
Auf Plakaten und in Werbespots (»lieben sie kinder mehr, als ihnen lieb ist?«) werden betroffene Männer aufgefordert, sich zu melden: »Es gibt Hilfe. Kostenlos und unter Schweigepflicht.«
Der Appell richtet sich an eine große Minderheit: Etwa ein Prozent aller Männer zwischen 18 und 70 Jahren gelten nach Hochrechnungen der Sexualwissenschaftler und Schätzungen internationaler Medizingremien als pädophil. Das sind allein in Deutschland rund 290.000 - fast ebenso viele, wie an Parkinson erkrankt sind.
Das Charité-Projekt soll Existenzen retten: Kaum ein Delikt löst mehr Abscheu aus als Kindesmissbrauch, führt für die Täter so schnell zur Vernichtung des Rufes und der Reputation. Und kaum ein Delikt hat für die Opfer so verheerende Folgen.
Längst überwunden geglaubte Kindheitserlebnisse lösen oft noch Jahre später Misstrauen und Angst gegenüber Partnern aus, können zu Impotenz, zu Frigidität führen. Häufig sind die Opfer als Erwachsene unfähig, eine sexuelle Bindung einzugehen.
Die Zahlen sind erschreckend. Jedes Jahr registriert die Polizei in Deutschland rund 14.000 Missbrauchsfälle, die Dunkelziffer liegt weit höher. 8,6 Prozent aller Mädchen und 2,8 Prozent aller Jungen werden nach repräsentativen Erhebungen zu Opfern sexueller Übergriffe.
In die Schlagzeilen geraten meist nur aufsehenerregende Morde, etwa acht im Jahr. Oder gruselige Entführungen wie die der taffen Wienerin Natascha Kampusch oder der 14-jährigen Deutschen Stephanie Rudolph. Doch das sind Ausnahmen. Die meisten Taten werden nie angezeigt.
Den Männern, die an dem Projekt in Berlin-Mitte teilnehmen, wird viel abverlangt. In dem alten Backsteinbau der Charité, in dem Robert Koch vor 124 Jahren den Tuberkulose-Erreger entdeckte, ist nämlich vor allem eines gefragt: Offenheit.
Menschen, die ein Leben lang ihre sexuellen Vorlieben geheim gehalten haben, vor den Eltern, den Geschwistern, den Kollegen, manchmal auch vor der eigenen Ehefrau, müssen sich in der Gruppentherapie erstmals vor anderen bekennen: »Ja, ich bin ein Pädophiler.«
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AN DER BERLINER CHARITÉ
läuft seit Anfang des Jahres (2006) ein bundesweit einmaliges Experiment: Pädophile können sich dort mit dem Ziel behandeln lassen, ihre Neigung so zu beherrschen, dass sie nicht straffällig werden, nie Kinder sexuell missbrauchen. Die Therapie, die neben Einzel - und Gruppengesprächen auch die Abgabe hormondämpfender Medikamente vorsieht, dauert mindestens ein Jahr. Von den über 400 Personen, die sich bislang gemeldet haben, sind 70 in das vollständige Programm aufgenommen worden; auch die anderen werden ausführlich befragt und beraten. Finanziert wird das von Professor Klaus Michael Beier geleitete Projekt durch die Volkswagenstiftung Hannover, Interessenten können sich unter der Telefonnummer 030/450 52 94 50 oder der Internet-Adresse www.kein-taeter-werden.de melden.
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»Das ist für alle ein Alptraum«, berichtet der Psychologe und Projektkoordinator Christoph Joseph Ahlers, der zwei der Therapiegruppen leitet. Der Sexualmediziner, hochgewachsen, distanziert freundlich, weiß aus vielen Gesprächen, dass betroffene Männer ihre Neigung am liebsten vor der Welt und vor sich selbst verbergen würden. Er weiß aber auch, dass ohne Selbsterkenntnis nichts geht: »Nur wenn ich akzeptiere, dass etwas zu mir gehört, kann ich es zuverlässig kontrollieren.«
Und um Kontrolle geht es. Die Therapie kreist um die zentrale Frage: Was tun, wenn es mich überkommt?
Viele Antworten sind einfach, jedenfalls in der Theorie: In solchen Momenten keinen Alkohol trinken, keine Drogen nehmen, jede Enthemmung vermeiden. Sich Kindern nicht nähern, Bitten um Schulaufgabenhilfe oder Gefälligkeitsautofahrten strikt ablehnen. Keine Pornos gucken.
Die Praxis ist schwer. Psychologe Ahlers übt mit den Patienten immer wieder Techniken, dem Drang zu widerstehen. Und der Versuchung, die Verantwortung für heikle Situationen auf die Kinder abzuschieben. Der Therapeut hört häufig verräterische Aussagen wie etwa: »Das Mädchen hatte nur ein ganz kurzes T-Shirt an. Und es hat mich die ganze Zeit verführerisch angeguckt.« Oder: »Was kann ich dafür, wenn sich dieser Junge im Kino ausgerechnet neben mich hockt?«
In Rollenspielen müssen sich die Männer deshalb in die Situation von Kindern versetzen, sich aus der Sicht ihrer möglichen Opfer wahrnehmen. Kapieren, dass Kinder zwar sexuelle Wesen sind, sich aber niemals und unter keinen Umständen sexuelle Kontakte zu Erwachsenen wünschen.
Untersuchungen haben ergeben, dass jene Kinder häufig zu Opfern werden, denen es an Fürsorge und Liebe fehlt; die verzweifelt versuchen, überhaupt wahrgenommen zu werden. Therapeut Ahlers weiß aus Erzählungen seiner Patienten, wie leicht es ist, das Vertrauen solcher Kinder zu gewinnen: »Manche sind schon glücklich, wenn sie jemand beim Vornamen nennt.«
Am Projekt der Charité dürfen nur Männer teilnehmen, die entweder ihr Verlangen bislang erfolgreich kontrolliert haben oder deren Verfahren, so sie verurteilt wurden, nach einer verbüßten Strafe abgeschlossen sind.
Die Erwartungen an die Therapie sind riesig. »Anfangs glaubte ich«, erinnert sich Ralf P., »jetzt fängt ein neues Leben an.« Sein Traum: endlich nicht mehr den Furien seiner Sexualität ausgeliefert zu sein, den Wachträumen, den Phantasien. Und womöglich so zu werden wie die meisten anderen Männer: eine erwachsene Frau zu begehren, zu lieben. Ganz normal.
Doch der Traum endet schon bei der ersten Sitzung. Als ihm der Psychologe erklärt, dass die Neigung selbst nicht therapierbar sei, sondern nur der Umgang mit ihr, möchte Ralf P. gleich wieder weglaufen, die Therapie schmeißen. Sich die allwöchentliche, mehrstündige Zugfahrt nach Berlin sparen, die quälenden Gruppengespräche sowieso. Drei Worte brennen sich in sein Bewusstsein: »Keine Heilung möglich.«
»Viele Teilnehmer sind schockiert, wenn ihnen das klar wird«, berichtet Therapeut Ahlers. Und die meisten reagieren verbittert, wenn der Sexualmediziner ihnen Hintergründe erläutert: dass die sexuelle Ausrichtung nach Abschluss der Pubertät feststeht, ohne Wenn und Aber. Und dass niemand die Möglichkeit hat, sich seine erotischen Wünsche auszusuchen, selbst zu entscheiden, ob er etwa hetero oder schwul sein will. Dass es keine Wahl gibt.
»Es ist einfach Schicksal«, erklärt der Psychologe, »eine Laune der Natur.« Und fügt wie zum Trost hinzu: »Es hat nichts mit Gut und Böse zu tun. Und nichts mit Schuld.« Denn er weiß, dass sich fast alle seine Patienten ständig mit heftigen Schuldgefühlen quälen.
Als Ralf P. erstmals spürt, dass ihn unausgereifte Mädchenkörper faszinieren - er ist 16 und Hilfsbetreuer in einem Ferienzeltlager -, versucht er entsetzt, solche Gedanken zu verscheuchen. Als sie immer wiederkehren, ihn nachts nicht mehr schlafen lassen, bekommt er Zorn auf sich selbst.
»Du Schwein«, beschimpft er sich. »Du Schwein, du perverses Schwein.« Er sieht sich schon vor Gericht, angespuckt, bedroht, verachtet von allen. Ralf, der Kinderschänder.
Um sich abzulenken, knüpft er später Kontakte zu gleichaltrigen Mädchen. Doch die, schon mit Busen, stoßen ihn mit ihren üppigen Formen ab. Seine Phantasien kreisen stets um die gleichen Bilder: Mädchen vor der Pubertät, die mit ihm schmusen wollen, die er streichelt und küsst. Allerdings, darauf legt er Wert, ohne Gewaltanwendung, ohne Penetration.
Aus Furcht, die Kontrolle zu verlieren, einmal doch schwach zu werden, zieht sich Ralf P. immer mehr zurück. Meidet Schwimmbäder, Sportplätze, Kinos, meidet alle Orte, an denen viele Menschen zusammentreffen und viele Kinder sind.
Freunde, denen er sich offenbaren könnte, hat er nicht. Mit den Bildern in seinem Kopf, die ihn mehrfach täglich zwanghaft überfallen, ist er völlig allein, zurückgeworfen auf sich selbst.
Sein Pädagogikstudium bricht er ab, die Gefahr, als Erzieher oder Lehrer ständig mit Kindern konfrontiert zu werden, ist ihm viel zu groß. Stattdessen sucht er Arbeitsplätze fern aller Versuchungen, hockt als Kranführer einsam hoch oben oder fährt als Steuermann von Binnenschiffen über Rhein und Elbe. Spricht oft tagelang mit keinem Menschen.
Sein Hausarzt, dem er sich nach langem Zögern anvertraut, reagiert hilflos: Er verschreibt ihm ein Blutdrucksenkungsmittel, das den Sexualtrieb dämpfen soll, überweist ihn an einen Psychiater.
Der ringt die Hände, guckt Ralf P. nach dessen Geständnis voller Widerwillen an: »Helfen kann ich Ihnen nicht. Ich kann nur sagen: die armen Kinder.«
Ralf P. versucht, sich zur Normalität zu zwingen. Als er eine Frau wiedertrifft, die ihm viele Jahre zuvor als zehnjähriges Mädchen gut gefiel, riskiert er erstmals in seinem Leben eine Beziehung zu einer erwachsenen Frau. Um körperliche Nähe auszuhalten, stellt er sich die Partnerin als Kind vor. Das geht nicht lange gut.
Als sich Ralf P. nach mehreren Anläufen endlich offenbart, reagiert die Frau zunächst verständnisvoll: »Sex ist nicht alles«, erklärt sie. Doch sie berührt den Mann nie wieder, und er sie auch nicht. Die Beziehung scheitert.
Zweimal versucht Ralf P., sich das Leben zu nehmen. Mit 18 schluckt er eine Überdosis Tabletten, wird nur durch Zufall entdeckt. Mit 52, nach dem Bruch mit der Partnerin, will er sich zu Tode stürzen, Polizisten zerren ihn in letzter Sekunde von einer Brücke. Er muss monatelang in eine Psychiatrie.
Kein Einzelfall. »Fast alle Patienten haben Suizidphantasien«, sagt Therapeut Ahlers. Die Notwendigkeit, etwas für die meisten Menschen so Selbstverständliches wie die eigene Sexualität zeitlebens unterdrücken zu müssen, nie sexuelle Erfüllung zu finden, führt zu Depressionen und zu Aggressionen gegen sich selbst. Ahlers nennt das, medizinisch korrekt, »klinisch relevanten Leidensdruck«.
Das hinter dem Drang nach Sex auch der verzweifelte Wunsch nach Liebe, Zärtlichkeit und Anerkennung steht, macht die Abstinenz nicht leichter. »Ich weiß, dass es so etwas für mich nie geben wird«, resigniert Ralf P.
Damit Menschen wie er den Druck besser aushalten, wird an der Charité nicht nur mit Worten therapiert.
Ralf P. bekommt alle 14 Tage eine Depotspritze des Hormonblockers Androcur. Das Medikament, auch eingesetzt zur Behandlung von Prostatakrebs, wirkt dämpfend auf die Sexualhormone. Seit Verabreichung des Präparates hat P. erstmals das Gefühl, nicht mehr von den Bildern in seinem Kopf hilflos überschwemmt zu werden, sondern seine Sexualität zu beherrschen. Seitdem, sagt er, spüre er so etwas wie Freude am Leben.
Allerdings: Bei einem einzigen Fehltritt, hat er sich geschworen, würde er gegen sich selbst die Todesstrafe verhängen, gnadenlos.
Mit dem ungewöhnlichen Pakt versucht Ralf P., sich zum Verzicht zu zwingen, sein Überleben von seinem künftigen Verhalten abhängig zu machen: »Wenn ich mich je an einem Kind vergreife, bringe ich mich um. Diesmal wird mich niemand retten.«
(c) DER SPIEGEL