Leibeigenenorchester
Bewertung: 3 Punkt(e)Der russische Zar Peter, den sie den Großen nennen, brachte Rußland die westliche Kultur, wofür er unter anderem von den sogenannten Altgläubigen gehasst wurde, zum Glück war er jedoch Despot genug, um die Reformblockierer mit eiserner Knute auszusitzen. Unter anderem brachte Peter von seiner großen winterlichen Reise ins westliche Europa, zu der er mit einem Tross von 500 Begleitern und 300 Lastschlitten aufgebrochen war, Kenntnis und Liebe der klassischen europäischen Musik mit, die seinen zwischen den Polen Kirchenmusik und Volkslied verharrenden Untertanen bis dahin fremd war. Peter wollte diese Musik auch bei Hofe hören, jedoch gab es zu diesem Zeitpunkt praktisch keine Orchestermusiker in Russland. Doch der Zar besann sich des reichen Fundus an Leibeigenen, den sein großes Reich aufzuweisen hatte und sandte im Land nach solchen, die zumindest elementare Musikkenntnisse aufzuweisen hatten. Diese wurden rekrutiert und in vermutlich recht massiven Crashkursen mit der Westmusik und ihrem größtenteils unvertrauten Instrumentarium bekanntgemacht und leisteten von da an an Hofe und in den größeren Städten als erzwungene Kulturbotschafter ihre Dienste. Die Sache hatte nur einen Haken: Schnell stellte sich heraus, dass das musikalische Potential dieser nur notdürftig geschulten Musiker zumeist nicht ausreichte, um eine komplette Partitur herunterzuspielen, die Streicher beherrschten oft nur eine Handvoll Griffe, der Atem der Flötisten trug nur kurze Phrasen lang, dem Cembalisten waren die Moll–Tonarten fremd; mannigfach waren die Hinternisse, doch da verfiel Zar Peter auf eine Idee, die in der Musiktradition ähnlich einmalig dasteht, wie das ebenfalls typische russische Chorkonzert, das dieser Mangel an Instrumentalisten ebenfalls hervorbrachte (beim Chorkonzert werden alle Stimmen einer Partitur, auch solche, die üblicherweise durch Instrumente gespielt werden, durch Sänger dargebracht, denn an Sängern hat es dem russischen Volk nie gemangelt): In den Leibeigenenorchestern wurden Stücke die, sagen wir mal in Trioform für drei Konzertierende geschrieben waren (Cembalo, Violine, Viola etwa) von einem Dutzend und mehr Musikern gespielt, von denen jeder nur einen jeweils kleinen Bestand an Noten, etwa einen Takt lang, spielte, um dann von einem weiteren Musiker abgelöst zu werden, der nach kürzester Zeit ebenfalls pausierte und Zeit hatte, sich die nächste Grifffolge vorbereiten, bis er im Rahmen dieser Mosaiktechnik wieder an die Reihe kam. Selbstverständlich waren alle Musiker des Leibeigenenorchesters gehalten, einen möglichst nahtlosen Ablauf des Stücks zu gewährleisten, was ihnen nach Aussage westlicher Konzertbesucher der Zeit auch gelungen ist, leider gibt es keine Ton– geschweige denn Bildaufzeichnungen dieser Konzerte, die diesen Eindruck bekräftigen könnten. Ein bemerkenswerter Anblick muss es in jedem Fall gewesen sein.