Kunstpause
Bewertung: 4 Punkt(e)Ein Glück, daß die Beerdigungsfeier so peinlich verlief, wie ich es insgeheim befürchtet habe, so konnte ich mich die ganze Zeit, ohne mir was zu vergeben, der Tränen enthalten. Der Redner war doch ein schlimmerer salbaderkopf, als ich befürchtet hatte, einsamer Höhepunkt war der Teil der Ansprache, wo er darauf rekurrierte, daß Mutter und die Familie 'aus der ländlichen Welt des Sauerlandes' in die 'Stadt am Rande des Ruhrgebietes' gezogen sei. Ich sah sie förmlich vor mir, mit Kopftuch vor den Pflug gespannt, und bei der Heimkehr den Ofen mit getrockneten Kuhfladen heizend. Meine Fresse, Altena, Nachrodt-Wiblingwerde, das sind Industriekäffer mit einer sterbenden Stahlkultur, du fährst auf dem Weg dorthin kilometerweit an stillgelegten Drehereien und ähnlichen Industriedenkmälern vorbei - klar gibt es in der Gegend auch diesen lästigen Wald, aber damals hatten wir keine Hunde, es gab keine Veranlassung sich noch tiefer in die Barbarei zu begeben. Und dann immer diese Kunstpausen. »Während wir nun ein Lied hören, daß der Verstorbenen ans Herz gewachsen war« (ich habe einfach die am wenigsten peinliche Version von Amazing Grace ausgesucht) »gedenken wir ihres Lebensweges...« Schönen Dank, darf ich auch an etwas erfreuliches denken? In einem dieser Betroffenheitsbreaks konnte ich nicht mehr an mich halten und zischte Konrad zu: »Wo sich das alles so zieht, wäre es sicher in Mutters Sinne gewesen, wenn in der Kapelle statt Gesangbüchern Aschenbecher ausgelegt worden wären«, was er zum Anlaß nahm, die alles in allem recht trübsinnige Veranstaltung durch ein herzliches baßbaritonales Glucksen ein wenig aufzulockern.