Kinderkriminalität
Bewertung: 1 Punkt(e)
Kindererziehung und Gewalt
Zusammenfassung:
Unter psychoanalytischen Gesichtspunkten werden die Entstehungsbedingungen von Gewalt bei Kindern und Jugendlichen beschrieben und anhand von Fallbeispielen aufgezeigt. Der Autor unterscheidet zwischen körperlicher und seelischer Gewalt und ihren jeweiligen Auswirkungen auf den Einzelnen und die Gesellschaft. Fehlende Abgrenzung der Eltern, die Zerstörung der Identität eines Kindes durch körperliche und psychische Gewalt sind zusammen mit der offen propagierten Gewalt in den Medien die Hauptwegbereiter der erhöhten Gewaltbereitschaft, die auch durch die Anonymität und die Egoismen einer Leistungsgesellschaft gefördert wird.
Zunahme von Gewalt
Die Gewalt in unserer Gesellschaft hat sprunghaft zugenommen. Gewalt an der Schule - dieser Begriff ist eine feststehende Redewendung geworden. Es ist in den letzten Jahren eine zahlreiche, sehr differenzierte Literatur zu den Ursachen und Auswirkungen der Gewalt in unserer Gesellschaft entstanden (1, 3, 4, 5). Welche Faktoren in der Kindererziehung tragen dazu bei, daß Gewaltanwendung bereits unter Kindern und Jugendlichen ein Problem geworden ist? Die Antwort auf die Entstehung von Gewalt bei Kindern und Jugendlichen ist vielschichtig.
Definition von Gewalt
Gewalt beruht auf Handlungsweisen, die zu einer Zerstörung des Körperlichen oder Seelischen führen. Gewalt ist laut Brockhaus "die Anwendung von physischem und psychischem Zwang gegenüber Menschen. Gewalt umfaßt erstens die rohe, gegen Sitte und Recht verstoßende Einwirkung auf Personen (lat. violentia), zweitens das Durchsetzungsvermögen in Macht- und Herrschaftsbeziehungen (lat. Potestas) (1).
Der Begriff der Gewalt enthält neben dem zerstörerischen Aspekt auch positive Anteile, nämlich Kraft, Macht und Stärke. Wir sprechen z.B. beim Anblick eines großartigen Wasserfalles von Naturgewalt.
Auswirkungen körperlicher Gewalt
Die Ausübung körperlicher Gewalt in Form einer Prügelstrafe und vorsätzlicher körperlicher Züchtigungen ist als Erziehungsmittel inzwischen offiziell verpönt, auch wenn sie in den Familien noch vorkommt. So ist im BGB nicht mehr von elterlicher Gewalt die Rede, sondern von elterlicher Sorge. Die Erziehung durch Gewalt und übermäßige Strenge bahnt in den geschlagenen Kindern die Bereitschaft zur Gewaltausübung. Ein Kind wird unter einer häufigen, extremen körperlichen Gewalteinwirkung in seiner Selbstachtung und in seinem Selbst gebrochen. Später kann es aggressiv gehemmt sein, schüchtern und selbstunsicher. Erwachsen sucht das früher geschlagene Kind Situationen auf, in denen es selber geschlagen oder auf andere Weise mißachtet wird.
Auswirkungen psychischer Gewalt
Der Mensch nimmt alles als Gewaltanwendung auf, was auf Dauer sein Selbst zerstört. Psychische Gewalt wird oft subtil ausgeübt. Sie ist für Außenstehende nicht so leicht zu beurteilen wie körperliche Gewalt. Dauernde Abwertungen, extreme Bindung z. B. durch Verwöhnung, Angsterzeugen, psychischen oder sexuellen Mißbrauch sind eine Form seelischer Gewalt. Stierlin spricht von der Bindungsgewalt, vom Familienterrorismus und von Familiendiktatur, die er in vielen Familien vorfindet (6). Ein archaisches, verdrängtes Aggressionspotential kann später aktiviert werden, so daß ein aggressiver Durchbruch nach außen erfolgt. Die Betroffenen sind sich in den seltensten Fällen darüber im Klaren, daß sie im Grunde nicht ihr Gegenüber meinen, sondern daß sie ihre aufgestaute Wut gegen identitätszerstörende, grenzüberschreitende Elternfiguren an sich selbst, bzw. an ihrem Partner auslassen.
Der Suizid als Ausdruck von selbstzerstörerischer Gewalt
Eine enorme destruktive Gewalt verbirgt sich hinter einem Suizidversuch oder einem gelungenen Suizid. Sämtlicher Haß gegen die enttäuschenden Bezugspersonen wird von dem Betroffenen gegen sich selbst gerichtet und mündet in der Suizidhandlung. Die hohe Zahl der Selbsttötungen bei Kindern verdeutlicht das Ausmaß autoaggressiver Handlungen bei Kindern. An zweiter Stelle der Todesursachen bei Kindern steht der Suizid (7).
Zwei Fallbeispiele:
Ein 28jähriger Pädagogik-Student kommt in meine Behandlung, weil seine Freundin unter seinen Fesselphantasien vor dem Sexualakt leidet. Sie kann es nicht erdulden, daß er seine Phantasien an ihr ausleben will. Im Verlaufe der Therapie wird deutlich, daß er einerseits unter einer abnormen Bindung an eine übermächtig erlebte Mutter leidet, andererseits ist er nicht in der Lage, sich von seiner Freundin dort abzugrenzen, wo es nötig ist. Er bemerkt ihre laufenden Abwertungen zunächst gar nicht, sondern es bedarf einer Vielzahl von Therapiestunden, bis ihm ihre Grenzüberschreitungen und Beleidigungen deutlich werden. Hier kommen zwei Dinge zusammen: Der Student durfte als Kind seine eigenen Aggressionen nicht direkt ausleben, sondern war einer überfürsorglichen, identitäts- und grenzzerstörenden Mutter erlegen. Seine häufigen Mittelohrentzündungen und seine chronische Mandelvereiterung waren der äußere Anlaß und die Folge ihrer erstickenden Fürsorge. Die ständigen Herabsetzungen seiner Freundin verdrängt er genauso wie die damaligen Grenzüberschreitungen seiner Mutter. Das Resultat seiner archaischen Aggressivität sind sadistische Wünsche seiner Freundin gegenüber.
Seine Mutter hat ihm einen Brief voller Liebe und Schuldvorwürfe geschrieben: »Dies ist bestimmt schon der 50. Brief, den ich an Dich geschrieben habe. Keinen habe ich abgeschickt, in der Sorge, es könnte falsch sein. Ich wollte Dir nie und ich will Dir nicht weh tun. Jetzt muß ich aber an Dich schreiben, vielleicht ist es richtig??? Mein Fehler war vielleicht, daß ich Dich dem Papa gegenüber immer ein bißchen bevorzugt habe und daß ich Dir zu viele Entscheidungen abgenommen habe. Dann war ich vielleicht auch zu stolz auf Dich. Aber was soll es, so sind auch andere Mütter. Ich weiß heute nicht, was richtig und was falsch war. Das heißt aber auch, daß wir glücklich und zufrieden sein wollen. Dies wiederum können wir nicht, wenn Du uns nicht mehr magst und mir gegenüber mit soviel Mißtrauen gegenüberstehst. Ich will mich wirklich nicht in Dein Leben einmischen, und die Neugierde, die Du in mir vermutest, ist ganz bestimmt nicht da. Lieber Heinz, Du warst immer liebenswert und hilfsbereit. Wir wollen Dir bei Bedarf sehr gerne helfen, wir hoffen sehr, es geht Dir gut und wenn Du kannst und magst, rede mit uns.«
Er liest den Brief und hat in einer unruhigen Nacht einen Traum: »Ich bin in meinem Elternhaus. Ich stehe vor meiner Mutter und sage ihr: 'Du warst seelisch grausam zu mir. Du hast mich so oft mit Liebesentzug bestraft. Tagelang haben wir nicht miteinander gesprochen.' Dann stellte ich mich vor meinen Vater und sagte ihm ins Gesicht: 'Du bist eine Niete, weil du nie mit mir gesprochen hast und weil Du Dich nie um mich gekümmert hast. Du scheinst so stark nach außen und unnahbar!'«
Dieser Traum bedarf keiner Deutung, er spricht unverblümt aus, wie der Patient die Erziehung seiner Eltern empfunden hat.
Traum eines jungen Israeli
Ein 22jähriger Geologie-Student ist auf Grund einer Angstneurose unfähig, die Universität zu besuchen. Ein Traum, der seine Kindheit als Paradies beschreibt, gibt die Gewalt wieder, mit der er an seine Eltern gebunden ist: »Jemand wirft eine Gasbombe in das Zimmer, wo ich, meine Eltern und meine Geschwister sind. Es gibt aber nur zwei Gasmasken. Ich setze die Masken meinem kleinen Bruder und meiner kleinen Schwester auf. Dann ist das Gas plötzlich weg und die Tür ist offen. Die Sonnenstrahlen füllen das Zimmer. Ich wache auf.«
Was will der Traum dem Patienten sagen? Eine Gasbombe zerstört die familiäre Idylle. Die Familie kann nicht gerettet werden. Die Bindungsgewalt, mit der er an seine Familie gebunden ist, wird durch eine aggressive Kriegshandlung zerstört. Von seiner Familie ist nach dem Verfliegen des Gases nicht mehr die Rede. Er findet die Tür offen, das Tor der Freiheit, zu seinem neuen Glück. Sonnenstrahlen, Hoffnung und Licht haben seine Seele erfüllt. Die Therapie wird ihm diesen Weg zeigen.
Sexuelle Ausbeutung
Sexueller Mißbrauch hat schwere neurotische und psychosomatische, auch andere Erkrankungen zur Folge. Der sexuelle Mißbrauch ist eine Form der Grenzüberschreitung, die mit starken Ohnmachtsgefühlen, verdrängten Haßgefühlen und mit dem Gefühl der Identitätszerstörung auf Seiten des Opfers einhergeht.
Das Tabu der Aggressivität
Das Tabu der Aggressionsausübung in unserer Gesellschaft besteht darin, daß wir uns untereinander nicht direkt wehren und abgrenzen dürfen und können, wo es eigentlich erforderlich ist. Es fehlt vielen Menschen an der Fähigkeit, sich konstruktiv, aber auch aggressiv mit seinem Partner auseinanderzusetzen. Die hohe Zahl der gescheiterten Beziehungen unterstützt diese These. Aus Schuldgefühlen, aus Angst vor Strafe oder aus Angst vor der eigenen Identität wird der Mund gehalten, gedienert, diplomatisiert, gebuckelt, schön geredet oder aber leergesprochen. Ärger wird nicht offen geäußert, sondern er sucht sich dann seinen Weg durch den Hinterausgang, z.B. in der Scheidung.
Der Umgang mit tabuisierter Aggressivität in der Familie
Viele Verhaltensweisen können aggressive Formen annehmen: Liebe kann einen erschlagen oder einen ersticken. Offene Aggression ist in diesen Familien tabuisiert. »Bei uns ist man nicht aggressiv. Wir vertragen uns immer.« Dieses sind Botschaften einer aggressionsgehemmten Familie, in der die Mitglieder einen Burgfrieden geschlossen haben. Sie verteidigen diese Burg nach außen. Sie können dabei sehr aggressiv sein. Aggression gegen die eigenen Mitglieder wird aber nicht direkt ausgelebt, sondern durch Schuldgefühle, Überfürsorglichkeit, Grenzüberschreitungen anderer Art. Zärtlichkeit kann auch zudringlich ausgeübt werden. Schweigen kann aggressiv sein. Krankheit ist häufig Ausdruck von Aggression. Kinder haben eine große Sensibilität gegenüber Grenzverletzungen. Sie reagieren auf übergreifendes Verhalten zunächst mit direkter körperlicher Abwehr oder mit verbaler Abgrenzung. In derartigen Familien findet sich oft ein schwarzes Schaf, das die abgespaltene Aggression der übrigen Familienmitglieder auszutragen hat. Das Problem ist, daß gesellschaftlich sanktionierte Aggressionen ausgelebt werden dürfen, in der Familie aber herrscht nicht selten scheinheilige Friedseligkeit. Die Tabuisierung von Aggression führt paradoxerweise häufig zu enormer Gewalt, die sich indirekt gegen die Familienmitglieder richtet, auch gegen gesellschaftliche Sündenböcke, wie z. B. Kapitalisten oder Kommunisten.
Aggressivität und fehlende Abgrenzung
Eine Familie kommt in meine Behandlung wegen ihres 11jährigen Sohnes, der Verhaltensauffälligkeiten in der Schule aufweist. Die Mutter ist attraktiv und dominant. Ihr Ehemann liest schüchtern und zurückhaltend im Sprechzimmer die Zeitung, während sie die Dinge regelt. Sie ist unfähig, sich gegen das aggressive Verhalten ihres Sohnes abzugrenzen. Die Mutter rechtfertigt ihre aggressive Gehemmtheit vor sich selbst: »Meine anderen beiden Kinder sind doch ganz anders. Da gibt es in der Erziehung überhaupt keine Schwierigkeiten.«
Das enorme, angeborene Aggressionspotential dieses Jungen wird ihm zum Verhängnis: Er findet keine Grenzen, er wird in der Familie mit Nachsicht behandelt, sowohl von der Mutter als auch vom Vater. Hier sehen wir die Ursache von Gewalt und aggressivem Handeln darin, daß sich die Eltern gegenüber aggressiven Impulsen des Kindes nicht genügend abgegrenzt haben. Die Mutter erlebt die aggressiven Seiten ihres Sohnes auch als männlich und stark. Sie macht den Eindruck, als ob sie seine Aggressivität bewundert.
Erziehung allein mit Liebe und Sorge reicht nicht aus, Eltern müssen auch in der Lage sein, Grenzen zu setzen, Konsequenz zu zeigen, wo es nötig ist. Wenn Erziehung aber dahin geht, daß nörgelnde und schreiende Kindern zur Beruhigung vor den Fernseher gesetzt werden, der zudem Gewalt ausstrahlt, so befinden wir uns in einer Spirale von Richtungslosigkeit, Nichterziehung und Gewalt.
Eine wesentliche Ursache für die Entstehung von Gewalt bei Jugendlichen ist also darin zu erkennen, daß sie in ihrer angeborenen Aggressivität keine Grenzen gefunden haben. In der heutigen Zeit sind häufig Vater und Mutter arbeitend oder sie sind geschieden. Keiner von den Erziehungsberechtigten kümmert sich ausreichend um die Kinder. Das tägliche Miteinander umfaßt nur noch wenige Wortwechsel. Wann lernt das Kind, sich zu erfahren, seine sozialen Fähigkeiten zu entwickeln im Beisein von Vater oder Mutter? Der Vorwurf gegen den Vater, daß er in unser Gesellschaft kaum vorhanden sei, trifft inzwischen auch Mütter: auch sie gehen arbeiten und entledigen sich ihrer eigentlichen Erziehungsarbeit. Es wird nach Kindertagesstätten gerufen, nach Erziehungspersonal, das wohl so wenig wie diese Eltern in der Lage ist, eine Geborgenheit und Grenzen vermittelnde Erziehung zu leisten. Die Egoismen haben zugenommen, soziale Werte wie Hingabe, Treue, Aufopferung für die Nächsten sind im Ansehen gesunken. Der Materialismus steht zusammen mit der Selbstverwirklichung ganz oben an. Sie sind aber nur auf Kosten der Kinder zu erreichen.
Gewalt als Zeichen fortbestehender Infantilität und Symbiose
Wut- und Jähzornsanfälle entstehen durch eine erhöhte Kränkbarkeit und Selbstunsicherheit, aber auch dadurch, daß die Wut bewußt oder unbewußt als Druck- und Einschüchterungsmittel eingesetzt wird. Gewaltausübende Eltern sind in Teilbereichen Kinder geblieben, da sie selber nicht zu einer selbständigen Persönlichkeit mit einem gesunden Selbstwertgefühl werden durften. Die Gewaltausübung richtet sich entweder gegen Gegenstände, gegen die eigenen Kinder oder gegen den Partner. Hier liegen massive Grenzüberschreitungen vor, ungezügeltes aggressives Verhalten, das bei den Opfern, besonders bei Kindern zu Einschüchterung, Vertrauensverlust und späteren gravierenden neurotischen und psychosomatischen Symptomen führen kann, abgesehen von der Wahrscheinlichkeit, daß das Opfer später selber Gewalt ausübt.
Gewalt und Träume
Tauchen in den Träumen eines Menschen Gewaltszenen auf, so zeigt sich hiermit ein Ungleichgewicht, eine Störung der aggressiven Antriebe. Entweder ist der Träumer aggressiv-gehemmt und wagt es lediglich, in den Träumen seine Aggressivität zu erleben, oder aber der Träumer ist rücksichtslos und lebt seine Aggressivität zu sehr aus. In diesem Falle will der Traum dem Träumer seine aggressive Rücksichtslosigkeit vor Augen führen. Erst wenn während der Therapie das Aggressionspotential weitgehend abgebaut wurde und der Patient in der Lage ist, seine archaische Aggressivität im täglichen Leben sozial akzeptiert auszuleben, ist die Gefahr wesentlich geringer, an sich selbst oder anderen gegenüber Gewalt auszuüben. Dann hat auch das Symbol der Gewalt in den Träumen seinen Schrecken verloren.
Gewalt als Wandlungssymbol
Veränderungen, die das Unbewußte in Träumen einleitet, gestalten sich oft in Form von Gewaltszenen, die mit dem Tod oder der Zerstörung von bestehenden Strukturen einhergehen. Der Tod als Symbol der Wandlung ist ein sehr gewalttätiges Traumsymbol, das für Entwicklung und Reifung steht, die immer das Verlassen oder die Zerstörung von Bestehendem bedeuten. Träume und das Unbewußte sind nicht wählerisch in ihrem Ausdruck, sondern sie zeigen oft drastisch und konkret, daß auch Aggressionen eine große Rolle im Reich des Unbewußten spielen.
Die narzißtische Wunde
Träume drücken sich in symbolhaften Bildern aus. Wird ein Kind in seiner Identität zu sehr beschädigt, wird es in seinem Selbst durch zu starke Vernachlässigung, durch Vertrauensverlust, durch zu viel Bindung in seiner Selbstwerdung behindert, dann drückt sich diese Zerstörung des Selbst auch in Träumen aus: wir sehen Symbole archaischer, narzißtischer Wut, die sich gegen Mitmenschen, gegen den eigenen Körper oder gegen die Eltern richtet. Die Zerstörung des Selbst zeigt sich im Traum in demolierten Autos, in zerbrochenen Fahrrädern oder in der Beschädigung des eigenen Körpers. Ein 24jähriger Mathematik-Student träumt, daß ihm sämtliches Brustfleisch fehlte, so daß die nackten Rippen zu sehen sind. Zur Reparatur dieses Selbst sind erhebliche Anstrengungen nötig und erforderlich. Oft genug mißlingt dies aber. Die Zudeckung der narzißtischen Wunde bleibt dann Flickwerk, dahinter verborgen sind archaische Aggression, erhöhte Kränkbarkeit und das Bedürfnis nach allumfassender Zuwendung und Anerkennung. In der psychotherapeutischen Behandlung bilden die Lösung dieser Konflikte und die emotionale Neuerfahrung in der Gruppe die Grundsteine für eine Heilung des Selbst.
Gewalt und Medien
Unsere Kinder sitzen bis zum 18. Lebensjahr ca. 15 000 Stunden vor dem Fernseher (8). Täglich wird uns und unseren Kindern Gewalt im Fernsehen zugeführt. Betrachten wir allein die Tagesschau, so stellen wir fest: die Welt besteht aus Gewalt, Verbrechen und Krieg. Daß unsere Kinder auch in Kinderfilmen gewalttätige Szenen miterleben, ist ein Unglück: Sie erfahren, daß das Schlagen von Tom und Jerry alltäglich ist und daß enorme Schmerzen als Alltagserfahrung einzuordnen sind. Schauen wir uns einen beliebigen Zeichentrickfilm an, so ist innerhalb weniger Sekunden eine gewalttätige Szene zu beobachten: Ein Tier schlägt ein anderes, dieses fliegt durch die Luft und stößt an einen Ast. Es fällt schmerzerfüllt herunter. Der Gegner wiehert vor Schadenfreude. Bereits im Kinderfrühprogramm sind derartige Filme zu sehen.
Kinder lernen durch Erfahrung, sie lernen von Vorbildern, auch vor allem durch das Fernsehen und durch andere Medien. Das Fernsehen ist der Hauptpartner vieler Kinder geworden. Es ist durch die Vielzahl der Gewaltdarstellungen ein Hauptwegbereiter von Gewalt bei Kindern und Jugendlichen.
Gewalt in der Schule
Gewalt und andere Verhaltensstörungen an den Schulen nehmen zu. Das Überbetonen des Individualismus, das Appelieren an den Narzißmus, das Sich-Zu-Wichtig-Nehmen gegenüber der Gemeinschaft spielen eine wesentliche Rolle bei der Gewaltentstehung. Gewalt beinhaltet ein stark unsoziales Element. Die Anonymität unserer Gesellschaft, unserer Städte mit ihrer zum Teil seelenlosen Architektur und die hohe Scheidungsrate, die zu einer Zerstörung von Halt und Vertrauen führt, tragen neben der Mediengewalt dazu bei, daß Gewalt in unserer Gesellschaft wächst.
Jugend, Ideologie und Gewalt
Der Ablösungsprozeß von der Welt der Kindheit, das Erwachen der Sexualität und die damit verbundene Identitätssuche lassen eine latente Gewaltbereitschaft, die durch familiäre und außerfamiliäre kulturelle Einflüsse gebahnt ist, anschwellen und zum Ausbruch kommen, wenn die Bindungsgewalt an die Eltern zu groß ist und die Abwehr durch aktuelle Konflikte zusammenbricht. Zum Erwachsenwerden gehört der Protest, die Rebellion des Jugendlichen, der in der Ablösung vom Elternhaus die bisher überkommenen Werte der Elterngeneration in Frage stellt. Die links- und rechtsterroristischen Bewegungen, aber auch die Gewalt der Crash-Kinder sind als Teil eines unreflektierten Jugendprotestes gegen gesellschaftliche Mißstände aufzufassen. Unbewältigter, persönlicher Haß gegen identitätszerstörende oder ausbeutende Eltern ist immer die Grundlage für Gewaltentstehung in einer Gesellschaft. Dieser Haß sucht sich seinen Weg in einer Ideologie der Gewalt.
Auch die soziale Akzeptanz von Gewalt spielt in der jeweiligen Familie bzw. in der Subkultur eine Rolle, inwieweit Gewaltanwendung gesellschaftsfähig ist. Eine Gruppe kann sich eine eigene Gesetzgebung und eine eigene Rechtfertigung zur Auslegung von Gewalt schaffen.
Das Erbe der Gewalt
Daß Gewalt und Aggression zu unserem Erbgut gehören, zeigt die Beobachtung in den Kinderstuben: Bereits einjährige, zweijährige, dreijährige oder auch fünfjährige Mädchen wie Jungen beißen, schlagen, kratzen und spucken. Aus friedlichem Spielen wird schlagartig Gewalt, wenn die Nähe zwischen den Kindern zu groß wird oder wenn Grenzverletzungen stattgefunden haben. Ein Einschreiten der Eltern ist oft notwendig, wenn es nicht zu Verletzungen kommen soll.
Findet ein Kind aber hier nicht seine Grenzen, so kann es unter ungünstigen Umständen zu einem gewalttätigen Jugendlichen heranwachsen, der körperliche Gewalt als Druckmittel und Drohgebärde einsetzt. Eine Erziehung zur Aggressionsfreiheit und die Ächtung körperlichen Einsatzes unter Kleinkindern und unter Kindern führt jedoch zu einer ausgeprägten aggressiven Gehemmtheit und starken Schuldgefühlen aggressiven, eigenen Regungen gegenüber. Der erzieherische Mittelweg ist auch hier angezeigt. Weder das völlige Tabuisieren von Aggression noch das freie Ausleben der Aggressivität fördern die kindliche Entwicklung. Es ist besser, ein Kind mal kratzen und beißen zu lassen, mal eine Ohrfeige einstecken zu lassen, solange das Kind diesem nicht wiederholt ausgesetzt ist. Körperliche Abgrenzung gehört unter Kleinkindern zur Entwicklung der Selbständigkeit und zur Einschätzung der eigenen Kraft. Aggression unter Kindern als Mittel zum Erreichen von Zielen sollte nicht verherrlicht oder gutgeheißen werden, sie sollte aber auch nicht verteufelt werden. Ein Kind wird es lernen, seine Interessen durchzusetzen ohne Gewalt, wenn es hierzu angeleitet wird und seine Eltern dementsprechende Vorbilder sind. Es wird lernen, daß körperliche Gewalt ein unsoziales, schädigendes Verhalten ist.
Wege aus der Gewalt in der Erziehung unserer Kinder:
1) Die Unterstützung des Selbstwertgefühls.
2) Die Befriedigung von Zärtlichkeit.
3) Das Geben von Struktur und Halt in der Familie.
4) Die Fähigkeit des Kindes, sich abzugrenzen, unterstützen.
5) Grenzen setzen.
6) Dem Kind eine realistische Sicht von der Welt vermitteln.
7) Ihm ermöglichen, später seine Sexualität, sein Geltungsstreben, seine Begabungen zu entwickeln.
8) Ein Kind sollte nicht zu stark gebunden werden und nicht abgestoßen werden.
9) Einem Kind sollten Nächstenliebe und Achtung und Ehre gegenüber dem Leben vermittelt werden.
10) Das Verhindern von Gewalt in den Medien .
11) Das Lernen gewaltfreier Konflikt-Lösungen.
Literatur
1) Bäuerle, S.: Kriminalität bei Schülern. Bd. 1 u. 2, Verlag für angewandte Psychologie, Stuttgart (1989)
2) Brockhaus, Bd. 8, Brockhaus GmbH, (1989)
3) Hacker, F.: Aggression. Ullstein, Frankfurt a. M., Berlin (1988)
4) Rolinski, K., Eibl-Eibelsfeldt, I. (Hrsg.): Gewalt in unserer Gesellschaft. Duncker & Humblot, Berlin (1990)
5) Schwind, H.-D., Baumann, J. (Hrsg.): Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Duncker & Humblot, Berlin (1990)
6) Stierlin, H.: Delegation und Familie. Suhrkamp, Frankfurt (1978)
7) Süddeutsche Zeitung, 147 (1986), S. 44
8) Winn, M.: Die Droge im Wohnzimmer, Rowohlt, Reinbek (1984)