Flugzeugabsturz
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Absturzstelle
von Lex
Ich erinnere mich noch gut. Am Nachmittag des 30. Juli 1969 schwappte ein Woge aus Geifer durch unser Dorf, denn an jeder Häuserecke redeten die Leute davon, daß ein Flugzeug abgestürzt sei, irgendwo draußen im Tal, im Wald hinter den Aussiedlerhöfen.
Ich war damals ein Kind, nicht ganz acht Jahre alt und ich wollte, wie alle, hinaus zur Absturzstelle. Auch meinen Großvater, der dort sein Jagdrevier hatte, hatte die Neugier gepackt und so setzte er mich in seinen schwarzroten Mercedes und fuhr mit mir davon.
Am Ortsende, beim alten Schulgarten, hatte die Polizei eine Straßensperre aufgestellt, aber mein Großvater der Jäger kannte noch andere Wege, und wir nahmen den nächstbesten.
Am Waldrand, wo auch schon andere Fahrzeuge kreuz und quer auf einer Wiese standen, stellten wir das Auto ab. Zusammen mit anderen Leuten aus dem Dorf gingen wir, wie Pilger auf Wallfahrt, wie Ameisen auf einer Ameisenstraße, den Berg hinauf. Wir brauchten nicht lange und wir kamen an eine Stelle mitten im Wald, an der die Leute vor uns stehengeblieben waren. Hier, genau am Übergang zwischen Steigung und Bergplateau und nur noch von einer Baumlänge vom Himmel getrennt, war die Absturzstelle.
Ich weiß noch genau, daß es nieselte, daß Nebelschwaden in den Bäumen hingen und daß einige Bäume auf halber Höhe gebrochen waren. Es war eine Szene aus schmutzigen Farben; einzig die Bruchstellen der Stämme waren gelb wie Pfannkuchen.
Hinter den geköpften Tannen lagen die nassen, lehmverschmierten Trümmer eines ein-motorigen Sportflugzeugs, zerfetzt und zerknittert wie der Inhalt eines Abfalleimers und verbogen wie Wasserrohre aus einem Hausabbruch. Der Flugzeugrumpf steckte dicht neben dem Stumpf einer zerborstenen Tanne. Er ragte in steilem Winkel nach oben und zeigte wie ein Pfeil, mit einem verstümmelten Leitwerk als Spitze, genau zu der frischen Schneise zwischen den Baumkronen hinauf, die das Flugzeug auf seinen letzten Metern geschlagen hatte und durch die man jetzt in den grauen Himmel sehen konnte.
Die schneeweißen Flügel waren geknickt und gebrochen, und an irgendeinem Überrest von ihnen klebte eine Deutschlandflagge. Auf manchen der flächigen Fetzen aus dünnem Metall waren noch große, schwarze Zahlen und Buchstaben zu erkennen, oder zu-mindest Teile davon.
Zwischen all dem steckten, lagen und hingen triefende Äste, und dort wo sich die Trümmer in den Waldboden gebohrt hatten, ragten Wurzeln wie Gerippe aus der aufgebrochenen Erde. An drei Stellen waren dicke, gewobene Planen ausgebreitet, nur etwas aufgewölbt, wie kleine Grabhügel. Die Leute hielten Abstand zu ihnen und auch ich, das Kind, wußte, was sie bedeckten.
Als ich, wohl mehr aus Verlegenheit als aus Neugier, ein gekrümmtes Stück Metallrohr vom Boden aufhob, herrschte mich ein Mann in grauem Trenchcoat an, ich solle den Gegenstand sofort wieder hinlegen und zwar genau an die Stelle, von der ich ihn weggenommen hätte, und überhaupt wäre das hier nichts für Kinder und man solle mich nach Hause nehmen und vor den Fernseher setzen.
Stumm und eingeschüchtert legte ich das Stück Metall zurück an seinen Platz, so wie man einen Steckschlüssel an seinen eingeprägten Platz in einen Werkzeugkasten zurück legt. Ich hatte eine Ahnung vom höheren Sinn des Verlangten, und so tat ich, was ich tat, nicht mürrisch, sondern ehrfurchtsvoll.
Dann wurden alle, die nichts an der Absturzstelle zu suchen hatten, vom Einsatzleiter der Untersuchungskommision - dem Mann im Trenchcoat - barsch dazu aufgefordert, den Ort zu verlassen. Widerwillig aber ohne hörbaren Widerspruch begannen die meisten Leute damit, sich langsam hangabwärts zu bewegen, oder sich zumindest in einiger Entfernung vom Unglücksort in kleinen Grüppchen zusammenzustellen, um dort ihre Mei-nungen über das Gesehene auszutauschen oder kundzutun.
Auch ich wurde an der Hand genommen, und so gingen wir, ein Pulk aus Dörflern, durch den Wald hinunter und zurück zum Auto. Satzfragmente, wie: ... bloß zwanzig Meter höher...nur noch Hackfleisch....usw., die immer wieder in verschiedenen Variationen in den Sätzen vorkamen, die die Männer sich zuwarfen, schienen mir ein Beweis für deren Kompetenz - wie ich es heute nennen würde - und es erfüllte mich mit Stolz, daß ich bei diesen Männern sein durfte.
Einer, der im Krieg einmal mit einem Kniedurchschuß in einem Fieseler Storch aus Ruß-land heraus geflogen worden war, wußte, daß diese Kleinflugzeuge meist nur auf Sicht geflogen werden konnten, und daß bei diesem wolkenverhangenen Himmel... und dann noch der Albrand... und überhaupt keine Chance usw., usw.
Am nächsten Tag erzählte man mir und las mir aus der Zeitung vor, daß bei dem Unglück drei Männer ums Leben gekommen waren, einer davon sogar ein Prinz aus Bayern. Die Unglücksmaschine, eine einmotorige Messerschmidt Taifun, war in Offenburg gestartet und hätte irgendwo im Bayerischen landen sollen, doch aufgrund von schlechten Sichtverhältnissen und - wie man annahm - wegen Navigationsschwierigkeiten, flog das Flugzeug zu tief und zerschellte daher an einem Ausläufer der schwäbischen Alb, einem Bergrücken zwischen dem Killertal und dem Schamental bei Boll. Es war eine Tragödie und es war auch eine Sensation, aber ich weiß noch heute, wie enttäuscht ich damals war, daß es sich nicht um eine Passagiermaschine gehandelt hatte.