Aschenbecher
Im dunklen Winkel des Zimmers stand auf dem Fußboden ein voller Aschenbecher. Sie nahm ihn und drehte ihn um. Unzählige Zigarettenkippen fielen auf den roten Plüschteppich, zerstoben, so daß der kalte Aschenrauch in ihrer Nase sie zum Hu-sten brachte. Sie ging auf die Knie, ihr Oberkörper krümmte sich, sie fuhr mit der Hand über die Zigarettenkippen, die verteilt auf dem roten Plüschteppich lagen. Sie suchte den Ring. Endlich fand sie ihn. Sie legte ihn auf ihre rechte Handinnenfläche und suchte in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch, um den Ring zu säubern.
»Was machst du da?«
Eine ihr nur zu gut bekannte Stimme in der Türe. Sie drehte sich nicht um. Ihre linke Hand ballte sich zu einer Faust, in ihr der Ring, behütet für einen Augenblick. Sie konnte die Schritte auf dem roten Plüschteppich nicht hören, doch sie wußte, daß er auf sie zu kam. Sie verharrte kniend in ihrer Position, ihr Kinn senkte sich. Er legte seine Hand auf ihren Kopf.
»Warum hast du den Aschenbecher ausgeleert?«
Sie schwieg und starrte auf die vier Knöchel ihrer linken Hand. Die andere Hand steckte noch immer in der Hosentasche. Sie zog die Hand vorsichtig heraus und wischte sich die nasse Handfläche an der Hose ab. Nichts passierte. Seine Hand lag auf ihrem Kopf und sie wußte, daß ihr Kopf so lange gesenkt bleiben würde, bis er seine Hand wegnahm. Ihr Kinn berührte die Brust. Es war nicht angenehm, doch sie konnte in dieser Position noch eine Weile verharren. Ihr Blick schweifte von der krampfhaft zusammengepreßten Faust über den roten Plüschteppich, über die Asche und die Zigarettenkippen hinweg. Eine ausgerauchte Nikotinarmee, zu nichts mehr zu gebrauchen. Ausgedrückt und nun aus ihrer Urne herausgeworfen. Hineingewor-fen ins Rote Meer, eine letzte Seebestattung. Und da schwammen sie auf der stillen See, wollten nicht untergehen. Obwohl sie es nicht wollte, mußte sie lächeln. Sie hatte eine untergegangene Armee ins Meer geworfen! Für einen Moment vergaß sie den Ring in ihrer Hand, seine Hand auf ihrem Kopf, den kalten, beißenden Rauch in ihrem Gesicht, den Schmerz, der sich langsam von ihrem Nacken die Wirbelsäule hinunterbewegte.
»Warum hast du den Aschenbecher ausgeleert?«
Seine Stimme klang rauh und alt. Nicht grob und böse wie am Morgen, und auch nicht zischend und gehässig wie am Abend, nein, sie klang nach zu viel gerauchten Zigaretten und einer Müdigkeit, die sich bei Menschen einstellt, die nicht mehr an ihre Zukunft glauben. Sie verscheuchte die Gedanken vom Roten Meer und der unterge-gangenen Armee. In ihrem Gesicht verschwand das Lächeln zugunsten eines kon-zentrieren Blickes und zusammengekniffenen Lippen. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine steile Falte. Sie versuchte ihren Kopf zu heben, doch es ging nicht. So sehr sie sich auch bemühte, es ging nicht. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn und liefen in ihre feinen Augenbrauen. Es ging nicht.
Er nahm die Hand von ihrem Kopf. Aus ihren Augenwinkeln sah sie, wie er zum Fen-ster ging und den Rolladen in die Höhe zog. Sonnenlicht durchflutete das Zimmer. Er blieb vor dem Fenster stehen und starrte auf die gegenüber liegenden Wohnblöcke, große, häßliche und schmutzige Gebäude, die unter der Sommersonne zu ächzen schienen. Er wandte ihr den Rücken zu. Sie hob ihren Kopf und versteckte schnell den Ring in ihrer Hosentasche. Er ignorierte sie. Sie sah seinen breiten Rücken, sei-nen ausrasierten Nacken, die grauen Haare. Er zündete sich eine Zigarette an. Sie wußte nicht, ob sie aufstehen sollte.
Er drehte sich in ihrer Richtung um. Sie erschrak. Er kam auf sie zu, ging in die Knie und hob den Aschenbecher auf, den sie auf den roten Plüschteppich gestellt hatte. Ihr Blick senkte sich und unwillkürlich fuhr sie mit der Hand über ihre Hosentasche, um den Ring zu fühlen. Er bemerkte ihre Bewegungen und sah sie fragend an. Sie öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen, doch sie schwieg. Er zuckte mit den Schul-tern und ging mit dem leeren Aschenbecher in der Hand zurück zum Fenster. Sie atmete tief aus und stand auf. Er ignorierte sie.
Ihre Beine zitterten. Sie war furchtbar müde. Sie wollte alleine sein. Ihr Blick ging zu der Tür. Nur ein paar Schritte. Sie stand barfüßig auf dem roten Plüschteppich und bewegte sich nicht vom Fleck. Irgendwo im Haus klingelte ein Telefon. Ihr Blick ging zu ihm. Er drückte seine Zigarette aus. Er erschien ihr nicht so groß wie sonst. Ja, er war kleiner geworden. Nicht mehr der Riese, der die Sonne verdecken konnte, wenn er sich vor sie stellte. Sie machte zwei, drei Schritte in Richtung der offenen Türe, als er sich umdrehte und sie ansprach.
»Warum hast du den Aschenbecher ausgeleert?«
Sie blieb stehen. Ihre Arme fielen leblos herunter. Er warf den Aschenbecher an ih-rem Kopf vorbei gegen die Wand. Er zersplitterte krachend. Irgendwo im Haus klin-gelte ein Telefon. Sie drehte sich um, ihr Mund öffnete sich, doch sie schwieg. Statt dessen begann sie lautlos zu weinen. Er kam auf sie zu. Unwillkürlich suchte ihre Hand den Ring, während sie sich wie ein wehrloses Tier zusammenkrümmte. Er ver-suchte sie in die Arme zu nehmen. Sie stieß ihn, den einstigen Riesen, von sich weg. Ihr Mund öffnete sich. Er drehte sich weg und zündete sich eine weitere Zigarette an. Sie begann zu schluchzen. Er rauchte und fuhr sich mit der freien Hand über die grauen Stoppelhaare.
»Warum hast du den Aschenbecher ausgeleert?«, flüsterte er.
»Ich kann es dir nicht sagen«, sagte sie - ihr Schluchzen unterbrechend - kaum wahr-nehmbar.
Er starrte auf den roten Plüschteppich, Rauch ausstoßend. Sie verließ auf zittrigen Beinen das Zimmer.
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