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Marc Ries schrieb am 26.3. 2001 um 00:10:46 Uhr über

vergessen

der verlorene Apfel - zum aktiven vergessen, von Marc Ries

Das Problem mit unserem gängigen Verständnis von Vergessen
und Erinnern ist, daß beide sich auf etwas beziehen, das ihnen vorgelagert
ist, bzw. dem sie sich in gewisser Weise unterordnen sollen. Ich erinnere
mich eines Geschehens, das einige Zeit zurückliegt, ebenso vergesse
ich Dinge, die in der Zeit liegen. Dieses Verfahren ist eine Art Repräsentationsmodell.
Es geht davon aus, daß es eine prinzipielle Abbildbarkeit gibt zwischen
dem Zu-Erinnernden und der Erinnerung, zwischen dem was erinnert, und dem was als einmaliges Ereignis in der Zeit sich zugetragen hat. Jedoch, diese
Korresponenz zwischen Original und erinnerter Kopie hat es so nie gegeben.
Erinnern sagt ein ehemaliges Ereignis nicht noch einmal, sondern macht
aus diesem ein eigenständiges, ein zweites Ereignis - im Hinzufügen,
im Transformieren der Bestandteilen, im Erfinden neuer Bezüge. Aktives
Erinnern, das mit dem Erinnerten ein Neues in die Welt setzt.
Gleiches passiert mit dem Vergessen. Auch das Vergessen begründet
nicht einen Mangel, eine Leerstelle in einer früheren Sinnkette, steht
nicht in negativer Beziehung zu einem Original, ist nicht Nicht-Erinnern,
sondern aktive Kraft, die Neues schafft. Es geht nicht um das, was man
vergißt, das Vergessene, sondern um Vergessenheit. Selbstvergessenheit, wie es bei Nietzsche heißt, "als wonnevolle Entzückung
vor dem Zerbrechen der Individuation", des vermeintlich bewußten
Ausrichtens der eigenen Existenz". Kulturtechnik VERGESSEN. Vergessen
als aktives Lebensprinzip in einer Gesellschaft, deren ökonomische
Seele die Umkehrung aller Verhältnisse antreibt.
Ich kaufe einen Apfelsaft. Die Packung informiert über das Gekaufte
als 100% Apfelsaft, in Schrift und Bild. Äpfel, photographisch abgebildet,
die die Gleichheit von Inhalt und Form suggerieren.
Dennoch ist die Packung Apfelsaft zunächst einmal kein Apfelsaft,
sondern ein Behältnis mit einem flüssigen Inhalt. Da jedoch alles
Außen auf einen bestimmten Inhalt verweist, gehe ich implizit davon
aus, daß der Saft aus der Packung von Äpfeln stammt, also Apfelsaft
ist.
D.h. ich trinke und verschaffe mir zugleich über die verschiedenen
Zeichensysteme die Gewißheit, daß das Getrunkene eben Apfelsaft
ist. Und gleichzeitig vergesse ich all das, was ich eigentlich nie gewußt
habe. Nämlich wie der Apfel in die Packung kommt. Ich praktiziere
aktives Vergessen alle jener Bedingungen, die zur Herstellung eines industriell
normierten Getränks gehören: Die Art und Weise der Aufzucht und
der Ernte von Äpfel-Batterien, die technisch-chemische Zurichtung
der Äpfel in einen anderen Aggregatzustand, die Ähnlichmachung
der Flüssigkeit in einen allgemein anerkannten Geschmack von Apfel,
die Verpackung der Flüssigkeit mit einem Wust an semiotischen Zuschreibungen,
die unser repräsentationsverwöhntes Lebens davon überzeugen,
daß Form und Inhalt dasselbe sind. Nämlich 100% Apfelsaft. Also
100% etwas anderes als der Saft von Äpfeln. Dies ist der erste Abschnitt
in meinem aktiven Vergessen beim Kauf eines solchen Produkts. Der zweite,
vielleicht wesentlichere Abschnitt, passiert jedoch beim »Konsum«,
also beim Trinken. Ich trinke die Flüssigkeit genannt Apfelsaft und
vergesse schluckweise den - alten - Apfel zugunsten eines - neuen - Apfels,
der ausschließlich aus dieser Packung zu mir kommt. Im Gegensatz
zum Verdrängen, das unter anderen Vorzeichen auch aktives Vergessen
sein kann, meint Vergessen hier eine ästhetische Strategie, die mir
ein anderes Ereignis verspricht, als das worauf sich das Ding vor mir referentiell
bezieht.
Der Apfel ist mir zwar unterwegs verloren gegangen, dafür gewinne
ich aufgrund meiner Vergessensleistung eine neue Apfelhaftigkeit für
mein Leben, die einer goldig-gelblich, klebrigen Flüssigkeit, die
mir das Leben versüßt.
Ich handle mir also weniger den Bruch einer Repräsentation ein, als
vielmehr den Zuspruch einer lustvollen Neuorientierung in der Vorstellung
einer Welt voller Äpfel.
Dieses Vergessen als Selbstvergessenheit ist Kunst, eine Kunst, mit Nietzsche
gesprochen, die allein es vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche
oder das Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich
leben läßt.
100% Apfelsaft trinken ist somit eine komische Tat, durch die mich das
Leben rettet.


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