Er [der Dalai Lama] ist mitnichten der einzige Mensch, der sich in dieser Weltgegend als Gott ausgibt. Ein Verzeichnis aller inkarnierten Gottheiten im chinesischen Reich wird im Li fan yüan oder Kolonialamt in Peking aufbewahrt. Die Zahl der eingetragenen Gottheiten beträgt einhundertsechzig. Tibet ist mit dreißig von ihnen gesegnet, die nördliche Mongolei erfreut sich derer neunzehn, und die Südmongolei badet im Glanz von nicht weniger als siebenundfünfzig davon. Die chinesische Regierung, die väterlich um das Wohlergehen ihrer Untertanen bemüht ist, verbietet die Wiedergeburt solcher eingetragener Gottheiten überall außerhalb Tibets. Sie fürchtet, dass die Geburt eines Gottes in der Mongolei ernsthafte politische Konsequenzen hätte, indem sie nämlich den schlummernden Nationalismus und kriegerischen Geist der Mongolen aufstachel würde, die sich um eine machtbewusste Lokalgottheit königlicher Abstammung scharen und für ihn streiten könnten, sei es in Waffenbrüderschaft oder spiritueller Gefolgschaft; und es existiert neben diesen lizensierten Gottheiten eine Unzahl kleiner Privatgottheiten oder nicht anerkannter spiritueller Führer vermeintlich göttlicher Abkunft, die Wunder wirken und die Menschen in allen Ecken und Winkeln des Landes segnen; und in den zurückliegenden Jahren hat China die Wiedergeburtenrate dieser Taschenformatgottheiten außerhalb Tibets drastisch reguliert. Wenn sie aber nun einmal geboren sind, hält die Regierung ein wachsames Auge auf sie und ihre Anhänger, und wenn sich einer von ihnen etwas zuschulden kommen lässt, wird er umgehend degradiert, in ein entferntes Kloster verbannt und es wird ihm strengstens untersagt, jemals wieder im Fleische aufzuerstehen.
James George Frazer: Der goldene Zweig [The golden bough] 3,19 - 3rd Edition 1906-15
|