Rechtschreibreform vor dem Ende?
Die Flickschusterei eskaliert – Ickler verläßt den Rechtschreibrat
Ende Februar hat Theodor Ickler seinen Austritt aus dem „Rat für deutsche Rechtschreibung“ erklärt. Damit hat der profilierteste Kritiker des umstrittenen Reformwerks jenes Gremium verlassen, das für die „behutsame Weiterentwicklung“ der neuen Rechtschreibung zuständig ist — nach offizieller Lesart. Denn inoffiziell ging es um nichts anderes als die klammheimliche Reparatur der größten Monströsitäten einer verfehlten und lebensuntüchtigen neuen Orthographie.
Mit Theodor Ickler saß nur ein einziger Kritiker der Rechtschreibreform im Rat. Alle anderen sind entweder selbst Urheber der Reform, oder sie stimmen ihr zu. Dementsprechend war der Wille des Rats, das Regelwerk überhaupt tiefgreifend zu ändern, nicht besonders hoch. Unter künstlich erzeugtem Zeitdruck und in freiwilliger Beschränkung auf nur wenige, von den bundesdeutschen Kultusministern für „strittig“ erklärte, Bereiche unserer Rechtschreibung wurde dort demokratisch entschieden, was ein Substantiv und was ein Adverb ist. So wird das „Leid“ in „leid tun“ einerseits als Substantiv aufgefaßt, andererseits hat der Rat aber bei diesem „Substantiv“ jetzt die Kleinschreibung verordnet. Die Zahl der Ausnahmeregelungen steigt und steigt, die Reform verfehlt ihr Ziel der Vereinfachung völlig.
Da die Kultusministerkonferenz sicher sein wollte, daß an dem Reformwerk keine zu weitreichenden Eingriffe vorgenommen werden, wurde der Rechtschreibrat ferner auf Beschlüsse mit Zweidrittelmehrheit verpflichtet. Angesichts der aussichtslosen Position des einen reformkritischen Ratsmitglieds Ickler ist schon das ein Unding. Dessenungeachtet erklärte Andrea Freundsberger, Oberrätin im österreichischen Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, auf Anfrage dieser Zeitschrift: „Insgesamt wirken im Rat Reformbefürworter und Reformkritiker in überliefert konstruktiver Weise zusammen.“ Der Rechtschreibrat ist jedoch keineswegs mit Experten aus Germanistik und Linguistik besetzt, sondern mit Lobbyisten aus Verbänden und Wirtschaftsunternehmen, die mehr Gespür für Geschäftsinteressen als für die sprachliche Wirklichkeit haben. So kontrolliert allein der Mannheimer Dudenverlag direkt oder indirekt sieben Ratsmitglieder.
Vereinbarungen in Hinterzimmern
Die Geschäftsführerin des Rechtschreibrats, Kerstin Güthert, hält klandestine Sitzungen mit den im Rat vertretenen Wörterbuchverlagen ab, auf denen hinter ledergepolsterten Türen die Umsetzung des havarierten Regelwerks in den Wörterbüchern sowie Wörterlisten erarbeitet werden. Diese Wörterlisten und Einzelfestlegungen werden als Ergebnisse der Ratsarbeit der Öffentlichkeit präsentiert, ohne außer von den Wörterbuchredakteuren von einem einzigen Ratsmitglied begutachtet worden zu sein. Und mehr noch: Die zunächst anberaumte „Anhörung weiterer Verbände“ wurde zum einen Teil nur halbherzig durchgeführt und zum anderen Teil abgesagt. Wo diese Verbände überhaupt zur Begutachtung des Regelwerks kamen, hatten sie dafür nur drei oder vier Tage Zeit.
Inzwischen wird die Frage nach der Legitimität der ganzen Sache immer lauter gestellt: So unterzeichneten die deutschsprachigen Staaten am 1.7.1996 die Wiener Absichtserklärung, eine rechtlich nicht verbindliche Vereinbarung, sich für die Umsetzung der Rechtschreibreform einzusetzen. Dazu gehörte auch die Einrichtung jener zwischenstaatlichen Kommission, die nach mancherlei Querelen im Jahre 2004 aufgelöst und durch den „Rat für deutsche Rechtschreibung“ ersetzt wurde. Dessen Gründungsurkunde ist eine neue „Vereinbarung“ über ein „Statut“. Beides wurde von den beteiligten Staaten am 16.12.2004 unterzeichnet, also genau einen Tag vor der konstituierenden Sitzung des Rates für deutsche Rechtschreibung. Dessen Mitglieder erfuhren bei dieser Gelegenheit auch, daß inzwischen die Stelle eines Geschäftsführers ausgeschrieben, die Bewerbungsfrist abgelaufen und eine Geschäftsführerin (ebenjene Kerstin Güthert) ausgewählt worden war.
Vereinbarung und Statut wurden am 17.6.2005 abgeändert und aufs neue unterzeichnet. Auch von dieser Neufassung hatten die Ratsmitglieder keine Kenntnis. Laut Statut soll der Rat „die wichtigsten wissenschaftlich und praktisch an der Sprachentwicklung beteiligten Gruppen repräsentieren“. Dominiert wird er allerdings von Verlagsunternehmen und anderen Interessenvertretern, die zwar mit der Reformdurchsetzung befaßt sind, aber nicht mit der Sprachentwicklung. Und auch der Anteil der Bundesregierung und der einzelnen Ministerien an der Verantwortung für die Reform ist nicht mehr durchschaubar.
Was den Inhalt der Neuregelung betrifft, so ist zunächst eine inoffizielle, auf Absprachen zwischen der Kommission und den führenden Wörterbuchverlagen beruhende Revision vorgenommen worden, die im Sommer 2000 zu einer neuen Generation von Rechtschreibwörterbüchern führte. Im Sommer 2004 trat dann die erste amtliche Revision in Kraft, wiederum mit der Folge neuer Rechtschreibwörterbücher. Den Kultusministern hat die revidierte Fassung nicht noch einmal zur Billigung vorgelegen. Sie haben also auch nicht geprüft, ob die Kommission tatsächlich die „Modifikationsbeschlüsse der zuständigen Stellen“ korrekt umgesetzt hat. Und das revidierte Wörterverzeichnis wird ganz und gar das Werk der privilegierten Wörterbuchverlage sein und vom Rat nicht mehr begutachtet werden. Die Kultusminister haben bereits angekündigt, daß sie das Gesamtpaket unbesehen annehmen wollen.
Die Perspektiven
Für die bundesdeutsche Kultusministerkonferent, ein verfassungsmäßig nicht vorgesehenes Exekutivorgan föderalistischer Bildungspolitik, dem sich die zuständigen österreichischen, schweizer und liechtensteinischen Verwaltungsstellen ohne jede Not, aber freiwillig unterwerfen, gibt es nun drei Möglichkeiten. Entweder nickt sie die neue Stufe der Rückreform, wie angekündigt, unbesehen durch. Damit wird das Rechtschreibvolk nicht zu „versöhnen“ sein, wie es beabsichtigt war. Oder sie lehnt die Ratsvorschläge ab und beharrt auf dem Reformstand vom Sommer 2005. In diesem Fall wäre der Ratsvorsitzende Hans Zehetmair in einiger Erklärungsnot. Die meisten Ratsmitglieder waren in den letzten Monaten sowieso den nötigen Reparaturen abhold. Oder aber, drittens, die Empfehlungen zur Getrennt- und Zusammenschreibung, Zeichensetzung und Silbentrennung werden gebilligt, der Rest nicht.
Was auch geschehen wird, ist doch die breite Ablehnung dieser andauernden Flickschustereien in der Bevölkerung lebendiger denn je. Immer mehr Anwender, auch jene, die es mit der neuen Rechtschreibung ehrlich versucht haben, kehren zur traditionellen Rechtschreibung zurück. Dies geschieht ohne spektakuläre Verlautbarungen — mit Ausnahme von Symbolwörtern wie dass und Schifffahrt wird immer häufiger so geschrieben wir zuvor. Buchverlage denken bereits über ein gemeinsames Siegel „In normaler deutscher Rechtschreibung“ nach. Und auf Wikipedia war bereits zu lesen, der Duden plane für den Herbst 2006 eine „Traditionsausgabe“ in normaler Rechtschreibung, um sich die bedeutende Nachfrage nach einem aktuellen deutschen Wörterbuch in traditioneller Rechtschreibung nicht entgehen zu lassen.
Das sind wilde Zeiten in der Schlußphase des großen Rechtschreibkriegs. Die Fronten sind so verhärtet wie nie zuvor. Mit einem sauberen Schnitt ließe sich dieses Dauerproblem endlich aus der Welt schaffen. Die Schweiz steht bereits unmittelbar vor dem Ausstieg aus dem Massenexperiment. Von Österreich ist kein Widerstand zu erwarten, solange der Koloß Bundesrepublik auf Linie bleibt. Dort aber haben die Ministerialbeamten die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Denn das letzte Wort hat das Schreibvolk.
Internet:
www.sprachforschung.org
www.deutsche-sprachwelt.de
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