»AMNESIAC«
Wer im letzten Jahr die Möglichkeit hatte, Radiohead live zu erleben, wird manchen Song auf dem neuen Studioalbum »Amnesiac« wiedererkennen. Fast alle Songs entstammen den monatelangen Aufnahmesessions, in denen auch der Vorgänger »Kid A« entstand - und Titel wie »Pyramid Song« (der auf der Setlist noch »Egyptian Song« hieß), »Knives Out«, »Dollars & Cents« und »I Might Be Wrong« waren im letzten Jahr bereits ins Konzertrepertoire integriert worden. Die Tournee mit eigenem Zelt hatten Radiohead der Veröffentlichung von »Kid A« vorangestellt. Und schon in den zweieinhalbstündigen Mammutshows, die mit überwältigendem Sight und Sound in Szene gesetzt wurden, demonstrierten Thom Yorke, Ed O'Brien, Phil Selway sowie Colin und Jonny Greenwood, dass ihre sphärischen Popballaden, schwerblütigen Rockhymnen und experimentellen Kakophonien wunderbar unter einen Hut passen.
»Kid A« war alles andere als ein leicht zugängliches Werk, über das viel spekuliert und das schlussendlich doch zum gelungenen Plädoyer für halsbrecherische künstlerische Manöver wurde. Keine Single, kein Videoclip, keine Fotosessions, kaum Interviews - die Widerspenstigen zähmten das System. Denn »Kid A« wurde allen anderslautenden Prophezeiungen zum Trotz zum kommerziellen Triumph. Es war Radioheads erstes Album, mit dem sie den ersten Platz der US-Charts belegten, was nach wie vor für viele europäische Bands frommer Wunsch bleibt. Die Band war vor Freude ganz aus dem Häuschen und setzte spontan in New York einen Überraschungsgig an. In der Jahresendauswertung fast aller relevanten Rock- und Popmagazine rangierte das sperrige Werk auf vorderen, wenn nicht gar auf dem ersten Rang. Die radikale Abkehr von Rockmusik herkömmlicher Machart wurde zudem mit dem Grammy für das beste Alternative Album honoriert. Und unlängst setzte das amerikanische Rockmagazin Spin in seiner Top-40-Liste der wichtigsten Künstler für das Jahr 2001 Radiohead an die Spitze.
»Amnesiac« bietet genügend Indizien, dass die Band aus Oxford auf dem besten Weg dorthin ist. »Kid A« hat für »Amnesiac« bereits glänzende Vorarbeit geleistet: Die komplexen Klangstrukturen sind tief in das Bewusstsein eines Millionenpublikums gedrungen. »Amnesiac«, ein auf elf Songs komprimiertes Werk, ist jedoch wohltemperierter als sein Vorgänger, strahlt ungleich mehr Wärme aus. »Kid A« dokumentierte den Prozess, sich selbst neu zu erfinden, war »ein Trip, eine Kopfgeburt«, wie es Gitarrist Ed O'Brien in einem Interview bezeichnet. Tatsächlich wirkt »Amnesiac« müheloser und beschwingter, so weit dies bei der Melancholie, die Thom Yorkes Gesang verbreitet, überhaupt möglich ist. Gerade seine mal zärtlich, mal verzweifelt, doch immer zerbrechlich wirkende Stimme bestimmt mehr noch als bei »Kid A« den Charakter des Albums. Und so schwelgen die meisten Songs in einer bizarren Schönheit, in der auch immer alle Schrecknisse dieser Welt zu liegen scheinen: Wesenszug einer Band, in deren Songs wenig Fröhlichkeit, aber viel Welterkenntnis sichtbar wird - und die so faszinieren wie die Bilder von Francis Bacon.
Die auf »Amnesiac« spürbare Konzentration auf einzelne Songs geht einher mit einer neuen Strategie: Die poetische Pianoelegie »Pyramid Song« wird vorab samt Videoclip als Single erscheinen (auf die B-Seiten der verschiedenen Formate verteilen Radiohead neue Aufnahmen aus diesem Jahr). »Knives Out«, eine sphärische Akustikballade im Stile von »Exit Music«, und »I Might Be Wrong«, ein ätherischer Swamp-Blues, sind ebenfalls als potenzielle Singles im Gespräch. Ebenso wohl gewählte Live-Auftritte: Anfang Juni spielen Radiohead als Headliner bei den beiden Festivals Rock am Ring und Rock im Park, im heimatlichen Oxford organisieren sie für Anfang Juli ein Charity-Festival, für das sie bereits Beck und Supergrass gewinnen konnten, und eine Amerikatournee ist ebenfalls in Planung. Und auch die Kommunikation mit den Fans wollen Radiohead in diesem Jahr offensichtlich intensivieren. Nachdem für Journalisten die Homepage Spinwithagrin (co.uk) eingerichtet wurde, starten Radiohead in diesen Tagen gemeinsam mit Capitol Records und der Internet-Firma ActiveBuddy Inc. ein Board zum direkten Informationsaustausch mit den Fans.
alwaysultra
|