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wuming schrieb am 15.7. 2007 um 00:45:48 Uhr über

neoismus

»Neo-dadaistischer Retro-Futurismus«
oder: wie Stewart Home die Avantgarde erfand


Oliver Marchart




»Today there is nothing left to hope for but the safe arrival of the next welfare cheque. Radical art and politics are dead.« (Home 1991a, 32)




Die Koordinaten


In letzter Zeit scheint Stewart Home als Autor und Vortragender seiner Romane - was immer da drinsteht - zu einer gewissen Berühmtheit auch bei uns gekommen zu sein. Den ersten Schritt zum Ruhm machte er allerdings schon in Zusammenhang mit der 80er Jahre Anti-Kunst-Bewegung Neoismus, zu deren George Maciunas er sich praktisch selbst erkor. Der Neoismus teilte damals seinen spaß-anarchistischen und post-situationistischen Charme mit ähnlich obskuren Projekten, die eher an der Grenze zwischen Pop und Kunst angesiedelt waren: die bekanntesten davon waren wohl die KLF bzw. seit 1993 die K Foundation[1], P Orridge's Temple ov Psychic Youth und die Church of the SubGenius[2].


Aber der inzwischen aufgelöste Neoismus vibriert immer noch nach. Stewart Homes Rolle als Säulenheiliger für insbesondere die gegenwärtige englische Neo-Situ-Anarcho-Techno-Szene ist kaum zu überschätzen. Vom Neoismus inspiriert sind solche psychogeographischen Ableger wie die wiedergegründete London Psychogeographical Association, oder die Glasgower Archaeogeodetic Association, wo sie nicht direkt mit Home zusammenarbeiten. Darüberhinaus kooperieren bzw. fühlen sich inspiriert solche teilweise um multiple names herum organisierte Projekte wie die von Rom und Bologna aus arbeitende Luther Blisset-Gruppe, die Luther Blisset 3-sided Football League (Fußball mit drei Mannschaften), die Association of Autonomous Astronauts (autonome low-tech Weltraumprogramme), die Tyrell Corporation (Subversions-Marketing),das praxis-label (Speedcore), Scanner (Handyscannen), Fast Breeder (BBS), das Invisible College (unsichtbare Aufstände), oder das Institute of Fatuous Research (sinnlose Forschung). In Deutschland arbeitet am ehesten die autonome a.f.r.i.k.a-Gruppe in diese Richtung.


Aus wievielen Personen diese Gruppen jeweils bestehen, ist praktisch nicht auszumachen. Die Zahl ihrer Mitglieder liegt wohl zwischen 0 und 20, mit Überschneidungen. Publizistisch sind sie um Fanzines organisiert, sowie in London etwa um das 121er Centre in der Brixtoner Railton Road. Das beste der Fanzines ist das von Matthew Fuller und Graham Harwood herausgegebene Underground (hier hat Stewart Home eine »Royalwatch«-Klatsch-Kolumne), das es auch schon mal zur Huldigung durch einen i-D-Bericht gebracht hat, andere relativ verbreitete sind Unnatural, alien undergound, TechNet, electrick SKIZOO, Fatuous Times, das elektronische Zine I/O/D, oder Decoder in Italien. Der Klassiker unter diesem Blättern bleibt aber das von Home angestoßene 80er-Jahre neoistische multiple Fanzine Smile.


Was die Zeitachse betrifft, so wuchs der Neoismus - nach Homes eigener Auskunft - in den späten 70ern als No Ism! in Portland aus der Mail Art-Szene und wurde 1979 von einer Montrealer Gruppe weitergeführt[3]. Stewart Home gibt an, mit dem Neoismus über einen schottischen Neoisten

in Berührung gekommen zu sein. Home selber gehörte also keineswegs zu den »founding fathers«, sondern zur zweiten Generation. Und doch gelang es ihm, mit einer Reihe publicity-trächtiger Aktionen und konsequenter Selbst-Historisierung heute für den Begriff Neoismus schlechthin zu stehen. Der große Karriere-booster kam mit der Ausrufung des Art Strikes, einer für den Zeitraum von 1990 bis 1993 geforderten Bestreikung aller Kunsteinrichtungen von Seiten aller »Kreativen«. »Demolish Serious Culture« hieß die Parole. Home hielt die Streikphase durch und sagt heute, durch ernsthafte künstlerische Arbeit wäre er bei weitem nicht so bekannt geworden wie durch dreijähriges Nichtstun.


Das größte Problem jeder kritischen Würdigung neoistischer und post-neoistischer Aktionen, wie der Forderung nach einem drejährigen Kunststreik aller Kulturschaffenden oder nach der Weltherrschaft für Stewart Home, liegt wohl in der Einschätzung des Spaßfaktors. Was oft mit dem Begriff »serious joke« bezeichnet wird, läßt sich eben sowohl als Blödsinn sehen als auch als meta-ernsthaft. Das kalifornische Art Strike Action Committee hat zu Beginn des Kunststreiks eine Liste von 20 Frequently Asked Questions zusammengestellt. Frage Nr. 4 lautete: »Is this a jokeUnd die Antwort war: »Absolutely not. How can you have shows when people don't even have shoes?«. Die Frage Nr.12 lautete dann noch einmal: »Is this a jokeDiesmal war die Antwort: »Sure: a joke, a fraud, the worst idea ever« (Home 1991, 47f.). Unsere Lektüre-Strategie wird darauf zielen, die zeitweise bescheuerten Texte des Neoismus Homescher Ausprägung vollständig ernstzunehmen und von jeder Unterstellung von Selbstironie, Parodismus etc. absehen.



Subkultur vs. Avantgarde


Stewart Homes Karriere begann mit einer Entscheidung für die »Avantgarde« und gegen den »Underground« - aus dem er als Mitglied einer 70er-Punk Band kam. Homes durch Punk geschulte Einsicht: Wenn man Musik machen könne, ohne ein Instrument zu beherrschen, dann kann man auch Kunst machen, ohne eine Ahnung von Kunst zu haben. Es läßt sich wohl sagen, daß, hätte sich Home dafür entschieden, weiter Subkultur-Taktiken anzuwenden statt zu Avantgarde- bzw. Kunst-Strategien zu wechseln, sein Bekanntheitsgrad heute nicht über den einer lokalen Londoner Szenegröße hinausreichen würde. Aber was macht den Unterschied aus zwischen Subkultur und Avantgarde? Warum gewinnen vergleichsweise kleinere Avantgarde-Gruppen größere Diskurshegemonie? Home selber gibt folgende Deutung:


»The distinction I make between the categories underground and avant-garde is based on the concept of theoretical rigour. Both categories view themselves as oppositional - although this is a claim that I, personally, tend to treat with suspicion - the difference is that avant-garde is more intellectually vigorous than the underground.« (Home 1995, 173)


Nach dieser Meinung wären Avantgardepraktiken bewußter, durchdachter, gezielter und selbstreflexiver als Subkulturpraktiken. Sollte das zutreffen, stellt sich dennoch die Frage nach dem Grund dafür. Folgende Erklärung scheint aus Sicht der Hegemonietheorie plausibel. Subkultur (so wie Underground) gehört zum Register des Sozialen, der Kultur, die sie schon im Namen trägt. Avantgarde dagegen ist eine politische Organisationsform und beschreibt eine spezifische Weise der Intervention (ob die erfolgreich ist oder nicht, hängt von der jeweiligen politischen Konjunktur ab, dazu später).


Deshalb muß auch der politische Begriff Hegemonie gegen kulturalistische Vorstellung von Hegemonie - als »kultureller« Hegemonie - verteidigt werden. Hegemonie ist kein lebenskulturelles, soziales Grassroots-Ding, sondern eine politische Artikulationsform, die sich im Terrain, mit dem Material oder vor dem Horizont einer immer schon gegeben Kultur (dem Sozialen) bewegt und diese reaktualisiert. Im engeren Kultur- oder sogar Kunstbereich, so könnte man die These aufstellen, verhält sich Avantgarde-Kunst zur Kultur-Kultur (insbesondere zum institutionalisierten Kulturbetrieb) ähnlich wie Politik zum Sozialen. Kunst wie Politik sind Formen der Reaktualisierung der von den jeweils zweiten Termini (Kultur und Soziales) bezeichneten Sedimente von Praxen[4]. Jede Unterbrechung/Entscheidung muß sich aber, will sie ein neues Feld etablieren, wiederholen bzw. wiederholbar sein. In der Kunst ist das der Vorgang der Kanonisierung[5]. Die gegenläufige Strategie von Avantgarde ist in allgemeinster Formulierung: Unterbrechung repetitiver Praxen. Genau deshalb läßt sie sich zum dem Register der Politik zählen. (Für Unterbrechung läßt sich einsetzen: Chock, Skandal, Aktion, etc. - für Wiederholung: Tradition, Kanon, Geschichte).



[Historisierung als Hegemonisierung: Bausatz für Kunstbewegungen]


»Neoism is a methodology for manifacturing art history.«21


Nichts wechselt in vorhersehbarer Weise »automatisch« vom Register der Politik in das des Sozialen - und da es keine solche automatische Reterritorialisierung, keine »naturgesetzliche« Vereinnahmung gibt, muß dieser Wechsel artikuliert/konstruiert werden. Dasselbe gilt für Kunst. Keine Avantgardebewegung wird automatisch »vereinnahmt«. Hatten die Situationisten noch mehr oder minder heimlich ihre Materialien den Archiven und Museen überantwortet, um sich einen Platz an der Zukunft zu sichern, so rechnet es sich Home als seinen Beitrag zur Tradition der Avantgarde an, diese Selbst-Historisierungsleistung mit in das offene, bewußte Programm der Bewegung aufgenommen zu haben.


»One of the twists I added to the avantgarde tradition was to emphasise the process of packaging movements in preparation for their historification. This was always an important aspect of avant-garde activity. If it hadn't been, the SI wouldn't have bothered depositing vast amounts of material with museums and archives. My achievement was to demonstrate that rather than being recuperated by an all powerfull culture industry, avant-garde groups actively collude in the process of art historicisation.« (Home 1995, 174)


Stewart Homes erklärtes Ziel der neoistischen Reaktualisierung der Kunstgeschichte liefe somit einerseits notwendig über den politischen Begriff der Avantgarde, d.h. gezielter (politischer) Intervention, und nicht über den (sozialer) Subkultur. Um seiner Umschreibung der Geschichte der Nachkriegsavantgarde aber Struktur und Dauer zu verleihen, mußte sich Home andererseits zu seinem eigenen Historiker machen.


Der Begriff »Kultur« hat in diesem Sinne ja nicht zufällig den doppelten Sinn von Landwirtschaft (Bio-Praktiken) und Lebensform (Soziales). Kulturarbeiter - wie Kuratoren - sind die Bauern, oder besser, die Gärtner der Kunst: sie domestizieren, pflegen, ziehen auf, stellen unter Landschaftsschutz, etc. Durch diese Pastoraltechnik überführen sie Methoden der Unterbrechung oder Entscheidung (wir sprechen hier immer von der Nachkriegsavantgarde in der Futurismus/Dada-Linie; Home nennt das »neo-dadaistischen Retro-Futurismus«) in repetitive Praxen. Damit geschieht strukturell dasselbe wie bei der Sedimentierung von Machtkämpfen in das Register des Sozialen (wo das Bewußtsein von deren kontingentem Ursprung gelöscht wird).


Home bringt also zwei Praxistypen in Anschlag: avantgardistische Reaktivierung und kulturarbeiterische Sedimentierung (Löschen bestimmter Usprünge durch konstante Widerholung). So vereint er in sich die Rolle des Avantgardisten und die des Gärtners seiner Avantgarde; die Rolle des Provokateurs und des Kulturarbeiters; die Rolle des Künstler und des Kunsthistorikers der eigenen Aktionen. Home spricht das selber deutlich aus: »I've put a lot of work into structuring these movements so that they can be historically assimilated in the way that I desire« (Home 1995, 174). Wie gelang ihm das?


Eine der wichtigsten Voraussetzungen war die »Vertextung« des Neoismus. Als Home zu den Neoisten stieß, mußte er feststellen, daß es nicht genug Texte gab (»there wasn't enough text«[6]). Grundlage einer schnellen Historifizierung sind jedoch zugängliche Texte, am besten Manifeste. Also produzierte Home Manifeste am Laufmeter. Dazu nahm er sich den Situationismus zum Vorbild und plagiierte situationistische Samples in seine neoistischen Manifeste. Auch die spätere gesammelte Herausgabe dieser Texte war notwendig, da sie es schließlich leicht machen sollte, über Neoismus zu schreiben und sogar ohne schwere Forschungsförderung einen halbwegs treffenden Überblick über Neoismus zu geben (weshalb z.B. vorliegender Text, der klarerweise zur Kanonisierung des Neoismus beiträgt, relativ aufwandslos zu erstellen war).


Da Historisierung natürlich nichts anderes ist als eine bestimmte Form der Hegemonisierung, i.e. der Hegemonisierung der Vergangenheit, scheint Home den Neoismus selbst als so eine Kunst-Hegemoniemaschine zu verstehen: »Neoism is methodology for manifacturing art history« (Home 1991a, 21).

Der folgende Text wird ein paar Programme dieser Historisierungs/Hegemonisierungs-Maschine näher betrachten: u.a. die Lawinen-Methode der multiple names, die Größenwahn-Methode der ridiculous demands und die Mythisierungsmethode des art strike.



Plagiarismus als »revolutionary tool« und multiple names


Es gehört zur plagiaristischen Ethik Homes, keine Idee zu verwenden, die nicht von jemand anderem stammt. Und so ist das Homesche Konzept des Plagiarismus selber ein Plagiat des situationistischen detournement. Nach Home sind so wunderbare Dinge wie Kreativität, Genießen/Spaß (pleasure), Phantasie und Begehren nichts anderes als die klassische Arbeitsethik nach ihrer Angleichung an die Postmoderne. Insofern kann Home sagen: »creativity is just as alienating as wage labour« (Home 1995, 13). Plagiarismus war nun Homes erstes Werkzeug im Kampf gegen Kreativität, künstlerischen Individualismus, Originalität, Authentizität und Genie-Kult.

Die Vorteile von Plagiarismus im Kampf gegen diese Identitäten liegen auf der Hand: Plagiieren zerstört die Notwendigkeit von »Talent«, da man nur noch entscheiden muß, was man plagiiert. Insofern sprechen laut Stewart Home auch pragmatische Argumente fürs Plagiieren: es spare Zeit und Mühen und verbessert das Ergebnis. Darüberhinaus verfügten die meisten Leute nicht über genug Wissen zur Geschichte der Nachkriegsmoderne, um überhaupt mitzukriegen, wenn etwas plagiiert wird. So würden auch alte Aktionsideen einen frischen Eindruck machen. Und Home, wie ein Vertreter von Küchengeräten: »As a revolutionary tool, it (plagiarism) is ideally suited to the demands of the late twentieth century« (Home 1991a, 24)


Eine besondere Form von wechselseitigem, sozusagen horizontalem Plagiarismus ist das Konzept der multiple names, ein von Home eingeführter Begriff für das »open Pop-Star«-Konzept der frühen Neoisten. All jene, die einen bestimmten bereits bekannten »Marken«-Namen verwenden (ursprünglich Monty Cantsin), könnten, so die Idee, automatisch mit einer vollen Party, einem vollen Konzert, einer vollen Vernissage, etc., rechnen. Das Multiple - ein Kunstkonzept der 60er und beliebter Rezessionskunsttypus - wurde vom Neoismus übertragen auf den Künstler. Nicht mehr nur ein »Werk« ist billig zu haben, sondern gleich eine Künstleridentität ist billig zu haben - der Künstler als Multiple. Wiederum sind kollektive Pseudonyme gegen westliche philosophische Ideen gerichtet wie »identity, individuality, originality, value and truth« (Home 1995, 11). Der Neoismus ist - neben seiner Kunststreik-Propaganda - vor allem für diesen Einsatz der multiple names Monty Cantsin, Karen Eliot und Luther Blissett bekannt.


»Plagiarism is a means of attacking private property, while the adoption of the name Monty Cantsin by all members of the Neoist Network, is central to the movement's death struggle with capitalism.« (Home 1991a, 23)



Multiple Brigadisten


Nun erzeugt ein kollektives Pseudonym eine Schnittstelle, die das Konzept beliebig anschlußfähig macht - eine klar anti-sektiererische Idee, die sich in der Politik etwa schon bei der Situationismus-inspirierten Angry Brigade fand. Für die Angry Brigade waren RAF, Rote Brigaden oder PLO autoritäre Gruppen. Die Angry Brigade beschrieb ihren Kampfeinsatz einer Art multiple names-Taktik in dem an ihre »Fellow Revolutionaries« adressierten Communique Nr. 6:


»Where two or three revolutionaries use organized violence to attack the class system...there is the Angry Brigade. Revolutionaries all over England are already using the name to publicise their attack on the system.«(AB, 29)


Was die Angry Brigade im zweiten zitierten Satz feststellt, ist, daß die Wahrscheinlichkeit, einen Anschlag zu publizieren, d.h. in die Presse zu kommen, unter dem trademark Angry Brigade größer ist als ohne dieses trademark. Das entspricht den von den Neoisten erörterten Vorteilen des »offenen Pop-Star«-Konzepts. Gleichzeitig gehen sie aber - im ersten Satz - noch einen Schritt weiter, denn sie starten hier nicht einfach einen Aufruf, den Namen ihrer Vereinigung munter zu verwursten.


Vielmehr produzieren sie einen Identitätsschluß zwischen sich und allen anderen Militanten, ob die wollen oder nicht. Eine hegemoniale Figur: Wer immer einen organisierten Anschlag verübt - ob unter dem Titel Angry Brigade oder nicht - gehört immer schon zur Angry Brigade. Man braucht also nirgends beitreten, sich nirgends anschließen, keine Risiken konspirativer Kommunikation auf sich nehmen, weil man immer schon dabei war, sobald man das Klassensystem attakiert. Dieser Schritt ist genial - oder wäre es, würde er gelingen. Er arbeitet einerseits natürlich mit der Rhetorik des aus Hollywood-Rächerfilmen bekannten »Wir sind überall« und vor allem des »Wo immer du gehst, schau dich um, denn wir werden hinter dir sein«. Eine imaginäre Selbst-Multiplizierung wie man sie auch aus militärischen Täuschungsmanövern kennt. Der Schritt gelingt aber einerseits nicht, weil er Klandestinität voraussetzt und es den beteiligten Gruppen verunmöglicht, aus dem Dunkel zu treten und eine offene Äquivalenzkette zu bilden.


Und er ist wohl auch im falschen Register angesiedelt. Denn genau dann, wenn du überall bist, bist du nicht mehr erkennbar: »They could not jail us for we did not exist.« Die Brigade existiert nicht deswegen nicht, weil es keine oder zuwenig Brigadisten gäbe, sondern weil so gut wie alle im Grunde Brigadisten sind: eine Welt von Brigadisten. Der Angry Brigade gelang es zwar, u.a. durch imaginäres Umstülpen (Spiegeln) der eigenen sektiererischen Selbstprädikate auf alle anderen, Omnipräsenz zu simulieren[7], was umgekehert identifikationsfreudigen Menschen ermöglicht, wie Sadie Plant richtig dazu anmerkte, sich risikolos als »Teil der Bewegung« zu fühlen. Das Problem liegt hier aber im Unterschied zwischen behaupteter Hegemonie qua Identifikationich bin jeder!«, bzw. »alle sind ich«) und hegemonialer Artikulation politischer Forderungen. D.h. zwischen imaginärer und symbolischer Politik. Denn, um ein anderes Beispiel zu bringen, als Phantasma des deutschen Herbsts war die RAF ebenfalls omnipräsent - aber als Gefahr und nicht als ernstzunehmendes Angebot an die Massen.


Und doch war die Angry Brigade schon einen Schritt weiter als sektiererische hit-and-run-Bewegungen, die eher über Einkapselung, Spitzelverdacht und ein profundes Mißtrauen gegenüber potentiellen Verwässerern der reinen Lehre funktionieren. Die klassische Avantgarde ist nicht inklusionistisch, muß es auch nicht sein, denn sie geht davon aus, daß sie als partikulares Grüppchen das Universelle (die Geschichte, den Sozialismus...) repräsentiert. Andere Partikularismen können dieses Universelle nur beschmutzen und müssen draußenbleiben. Sie können höchstens selbst vom Avantgarde-Partikularismus repräsentiert werden (Leninsche Bündnispolitik). Genau wegen ihrer inklusionistischen Strategie verneinte die Angry Brigade, daß - so isoliert sie real gewesen sein mag - sie Avantgarde sei. Sie steht nicht allein in vorderster Front, sie repräsentiert nichts, auch keine anderen Kämpfe: »WE ARE NO VANGUARD, nor do we claim to lead or represent anyone other than ourselves in our resistance« (AB, 69). Und doch gehören alle dazu, die wollen.


Bei der klassischen Avantgarde verhält es sich genau umgekehrt, nicht alle gehören dazu, sondern keiner. Nun behauptet Home, daß seine Bewegung anfangs so avantgardistisch war, daß sie nur aus einem einzigen Miglied - ihm - bestand. Wie verhält sich also das inklusionistische multiple names Konzept zur Idee von Avantgarde als Club? Und fällt Homes Neoismus diesbezüglich hinter die Angry Brigade zurück? Offensichtlich haben wir es mit zwei Strängen in der neoistischen Retro-Avantgarde zu tun: mit einer wirklichen Post-Avantgarde und einem Restbestand an klassischer Avantgarde. Einerseits kann, darf und soll jede/r Karen Eliot sein, andererseits versucht Stewart Home seinen Eigennamen als Substitut von Neoismus schlechthin einzusetzen, also Neoismus zu hegemonisieren.


In seiner Überaffirmation des Avantgarde-Gestus unterscheidet sich Home also von der Angry Brigade, die keine Avantgarde sein wollte: »The Neoists, temporarily located on Earth, are here to act as the vanguard in the future revolutionary struggle« (Home 1991a, 27). Dabei kommt die neoistische Hyper-Avantgarde laut Home direkt aus der »Zukunft«, beziehungsweise aus einer entfernten Galaxie, um die Erdbevölkerung auf die Revolution am Ende des Jahrhunderts vorzubereiten, wenn UFO's auf die Erde herabsteigen werden und das Proletariat zum endgültigen Sieg über die Bourgeoisie führen werden. Die trivial-marxistische Heilserzählung im Gewand der »Wissenschaft« und des »Wissens« um die objektiven Gesetze der Geschichte ist wohl mit dem Neoismus zu dem geworden, was sie schon immer war: Science Fiction. Wie in einer - ernsten - Persiflage auf die politisch-futurologische Heilsgewißheit aller, die die Gesetze der Geschichte kennen, versichert Stewart Home an anderer Stelle: »Remember, the success of Neoism is historically inevitable« (Home 1991a, 20). Zumindest was die Kunst-Geschichte betrifft, sollte er Recht behalten, wenn auch mit etwas Nachhelfen.



Größenwahnpolitik und die Politik der ridiculous demands:


»The apotheosis of the Neoist leadership will serve as the basis of a tradition which will create social stability and peace through strength.« (Home 1991a, 19)



Wie geht nun Home in seiner »Privatisierung« der Errungenschaften des Neoismus vor. Im »Ultimatum of the Generation Positive« werden neben einer so eher klassisch psychogeographischen Forderung nach Trockenlegung des Ärmelkanals, um Radrennen zwischen Dover und Callais veranstalten zu können (Radfahren wurde empfohlen als höchste Form ästhetischer Erfahrung), auch durchaus politische Forderungen gestellt, die vielleicht etwas unrealistisch waren, aber sehr gut Ernesto Laclaus der drei Stadien der politischen Inkarnation illustrieren können:


"- We demand the abolition of capitalism at 3pm on Sunday 24th March 1985.

- We demand that at 3.15pm on Tuesday 26th March 1985, STEWART HOME is declared President of the Western World.

- We demand that at 3.30pm on Tuesday 26th March 1985, STEWART HOME is crowned King of England in Westminster Abbey.

- We demand that STEWART HOME be made the sole subject of study for all school children aged twelve and above." (Home 1991a, 13)


Was ist von diesem Einrücken von »STEWART HOME« an den Ort universeller Repräsentation zu halten - vor allem vor dem Hintergrund der offenbar gegenläufigen multiple names-Politik, der Politik des Freihaltens dieses Ortes. Im Grunde läßt sich die Frage der Hegemonie auch ganz simpel stellen (so kompliziert alles drumrum ist): Wie gelingt es mir, als partikularer und weder durch Erbfolge noch durch »Gesetze der Geschichte« privilegierter Akteur, die Instanz der gesellschaftlichen Totalität zu inkarnieren.


Dabei treten zumindest zwei Probleme auf: 1. Die Inkarnation der Totalität gelingt nie ganz, weil die Gesellschaft »nicht existiert« (Laclau), d.h. keine Totalität ist.

2. Je höher ich auf der Inkarnationsleiter komme, desto mehr Eigenschaften verliere ich. Je mehr politische Gruppen sich unter meinen Forderungen zusammenfinden, desto weniger spezifisch können diese Forderungen sein. Deswegen ist jeder Prozeß der Hegemonisierung, also der Universalisierung einer Forderung, gleichzeitig ein Prozeß der Purifizierung, der Entleerung meiner Forderung von ihren spezifischen Inhalten. Wenn ich also den sublimen Status totaler Repräsentation von allem und jedem erreicht habe, bin ich, strikt gesprochen - Nichts. In diskurstheoretischen Termini: Jener Signifikant, der das Gesamte der Bedeutung eines gegebene Signifikationssystems fixiert, besitzt selbst kein spezifisches Signifikat: er ist ein »leerer Signifikant«. Wenn alle »Karen Eliot« hießen, dann ist das einzige, was »Karen Eliot« noch bezeichnet, die Instanz der Totalität selbst, wenn alle Angry Brigadisten wären, dann ist das einzige, was Angry Brigade noch bezeichnet, die Instanz der Totalität selbst.


Die Reduktion/Konzentration durch die Größenwahnpolitik auf die »reale« Person STEWART HOME erscheint wie gesagt erstmal als ein Widerspruch zur multiple-names-Politik. Stewart Home kann nicht einerseits den Neoismus bzw. seinen Vorgänger, die Generation Positive, offen bzw. leer, also universal halten, und sich gleichzeitig zur partikularen Inkarnation und zum sublimen Objekt, das diesen Slot füllt, ausrufen. Das ist mehr als nur ein Widerspruch im Neoismus. Hier sieht man den genuinen Widerspruch, der im Konzept der Avantgarde am Werk ist. Einerseits verbucht die Avantgarde das Universelle des Fortschritts für sich, andererseits kann sie ihn nur verteidigen, indem sie sich an dessen Stelle setzt, also ihn verkörpert, womit die Universalität korrumpiert ist. In genau diesem Sinne war etwa der Jakobinismus Avantgarde. Slavoj Zizek beschreibt die jakobinische Situation folgendermaßen:


»Auf der Ebene der Aussage schützt der Jakobiner die Leere des Ortes der Macht, er hindert jeden daran, diesen Platz einzunehmen - aber reserviert er so nicht für sich selbst einen privilegierten Platz, wird er nicht zu einer Art Umkehrkönig, d.h. ist nicht gerade die Position des Aussagens, von der aus er handelt und spricht, die Position der absoluten Macht? Ist nicht das Beschützen des leeren Ortes der Macht der listigste und gleichzeitig der brutalste, bedingungsloseste Weg, ihn einzunehmen?« (Zizek, 136)


Zizek versucht dieses Paradox des Jakobinismus - also den Platz der Macht dadurch freizuhalten, daß man ihn selbst einnimmt - zu lösen, indem er sich hegelianisch auf die Kehrseite des Jakobinismus schlägt: den Monarchismus.


Für Zizek ist im Sinne Hegels der Monarch als wirklich partikulare Inkarnation des Allgemeinen (als Stück Fleisch) ein Garant, daß niemand anders den Ort der Macht besetzen kann: Nach Zizek fungiert der Körper des Königs als der Garant der Nichtschließung des sozialen Feldes. Dieses Argument, daß der wahre Garant der Demokratie der Monarch sei, überzeugt wohl kaum wen. Denn schließlich unterscheidet sich die Demokratie als Diskursdispositiv von der Monarchie darin, daß in der Demokratie »Souverän« ein multiple name ist. Jede/r kann von sich behaupten, König, d.h. Souverän zu sein, zumindest auf dem Papier. König, Souverän, VolkKing Mob«) sind identische Begriffe und fallen in der Demokratie in eins (weshalb zurecht gesagt wurde, daß in der Demokratie das Volk nicht existiert).


Der Zizeksche Hinweis, der König sei aufgrund biologischer Abstammung (und eben nicht durch Verdienste, Weisheit etc.) ein besonders kontingentes Objekt, zählt kaum als Argument. Tatsächlich repräsentiert der Monarch - und das ist die Ursache des Fehlschlusses - nämlich nicht die gesamte Gesellschaft, er ist nicht der Repräsentant des »Volkes«, sondern der Monarch repräsentiert die Monarchie. Das heißt, die Staatsform. Darum kann ein Monarch immer zu Recht sagen »Der Staat bin Ich«, er kann aber nicht sagen »Das Volk bin Ich«. Es bleibt den modernen »Führern« vorbehalten, den eigenen mit dem »Volkskörper« zu verwechseln. Hier liegt, worauf Ernesto Laclau hingewiesen hat, ein Unterschied in der Inkarnationstechnik von christo-monarchisch organisierten Gesellschaften zu modernen Gesellschaften.


Wenn im sublimen Objekt »STEWART HOME« also das Universelle und das Partikulare zusammenfallen sollte (wie beim Zizekschen Monarchen), dann wäre es nur recht und billig, daß es zum alleinigen Studienobjekt für alle Schulkinder erhoben wird. Da Universelles und Partikulares aber nie gänzlich zusammenfallen, ist der König, wie Zizek richtig anmerkt, immer ein Hochstapler. Obwohl es in der Logik der Hegemonie liegt, den eigenen Namen zum universalen multiple name zu machen, zum leeren Signifikanten, der alle anderen Signifikantenketten fixiert, so kann diese Operation doch nie vollständig gelingen.



Inkarnationsreihen


Für Laclau gibt es drei Stadien oder Modi der politischen Inkarnation.

Im griechischen Modell stand es schlecht um alles Partikulare; wenn wir an Platons Ideenhimmel denken, dann würde jedes Partikulare nur als Beschmutzung dieser reinen Universalität gelten. Mit dem Christentum betrat dann folgender Inkarnationstypus die Bühne:


»Sein entscheidendes Charakteristikum ist, daß zwischen dem Universellen und dem Körper, der dieses inkarniert, keine wie auch immer geartete Verbindung herrscht. Gott ist der einzige und absolute Vermittler. Von daher machte eine subtile Logik ihren Weg, die dazu bestimmt war, einen tiefen Einfluß auf unsere intellektuelle Tradition auszuüben: die des privilegierten Akteurs der Geschichte, des Agenten, dessen partikularer Körper der Ausdruck einer ihn transzendierenden Universalität war. Die moderne Idee einer 'universellen Klasse' und die verschiedenen Formen des Eurozentrismus sind nichts als die entfernten Effekte der Inkarnationslogik.« (Laclau 1994, 289)


Im Christentum gibt es also keine andere Verbindung zwischen dem erbärmlichen irdischen Körper eines gewissen Jesus von Nazareth und der himmlische Universalität als den Willen Gottes. Mit dem Hegemonialwerden von »Rationalität« als transzendentalem Signifikat wurde Gott als Garant der »korrekten« Vermittlung ersetzt, aber eben nur ersetzt. Die Substitutionen von Klasse, Partei und großem Vorsitzenden ziehen dieses Wissen völlig auf ihre Seite. Deshalb kann man in diesem zweiten Stadium strenggenommen nicht mehr von Inkarnation sprechen: die Klasse inkarniert nicht mehr das Universelle, sie ist universal: das Proletariat ist die »universale Klasse«. Nun mußte aber diese Vermittlung selber, wenn sie denn »rational« war, »rational« eklärt werden können, was Aufgabe der wissenden Avantgardepartei war[8].


Demokratie - der dritte Modus - ist nun in den Theorien Claude Leforts und Ernesto Laclaus nichts anderes als der Name für jene Logik, in der Akteure qua Hegemonie darum kämpfen, kurzfristig das Universelle zu inkarnieren, ohne von vornherein in der pole position eines vom Universellen (wie der »Geschichte«) privilegierten Akteurs zu stehen. Was dagegen politische oder künstlerische Avantgarden negativ auszeichnet, ist genau dieses angebliche Wissen darum, wo vorne ist. Ohne in die lacanianische Analyse gegangen zu sein, konnte der Klassismus nicht akzeptieren, daß der große Andere nicht exisiert. Erst der Post-Marxismus geht soweit zu sagen: die Gesellschaft existiert nicht (Laclau/Mouffe).


Laclau plädiert aber nicht für eine Auflösung der Differenz zwischen dem Partikularen und dem Universellen, denn einerseits wäre ein bloß Partikulares ohne jeden universellen Horizont reinster Partikularismus, andererseits kann das Universelle ohne bestimmte partikulare Inkarnationen - obwohl mit diesen letztinstanzlich unvereinbar - nicht existieren:


»wenn nur partikulare Akteure oder Konstellationen partikularer Akteure zu einem beliebigen Moment das Universelle aktualisieren können, dann hängt die Möglichkeit der Sichtbarmachung einer post-dominierten Gesellschaft - d.h. einer Gesellschaft, die versucht, die eigentliche Form der Herrschaft zu überschreiten - inhärenten Nicht-Schließung davon ab, die Asymmetrie zwischen dem Universellen und dem Partikularen zu Dauer zu verhelfen.« (Laclau 1994, 298)


Hegemonie bezeichnet den Wettkampf verschiedener Gruppen, ihren Partikularismen eine Funktion universeller Repräsentation zu geben. Die Asymmetrie zu erhalten, bedeutet hingegen, nicht zuzulassen, daß diese Repräsentation als notwendig und wahr artikuliert werden kann. Versucht Stewart Home eine solche Artikulation? Einerseits läßt sich sagen nein, aber nicht etwa, weil seine Forderung nach englischer Krone und dem Präsidentenamt der westlichen Hemisphäre als Parodie zu lesen wären. Wir sollten sie besser 1:1 nehmen, also keinesfalls als Parodie lesen, und dann stellen wir genau den feinen Unterschied zwischen einer klassistischen Pseudo-Inkarnation und einer super-kontingenten Erbfolge-Inkarnation im Sinne des Zizekschen Monarchen fest. Es war gesagt worden, die universale Klasse, die Avantgardepartei, etc. inkarnierten nicht einfach das Universelle (die Geschichte, die Menschheit, den Fortschritt), sondern sie sind dieses Universelle, weil sie unmittelbare Einsicht in dessen Gesetze haben und keine Vermittlung notwendig ist: Home dementiert diesen avantgardistischen Modus vehement und macht einen Zizekschen turn zurück zum Monarchismus.


Das liegt in der Logik Zizeks und mag zwar lacanianisch und mit Sicherheit hegelianisch sein, aber es ist in gewisser Weise un-neoistisch! Es widerspricht allen Parolen vom Angriff auf Identität durch Plagiarismus und multiple names, denn Stewart Home ist kein multiple name. Stattdessen artikuliert dieses Manifest seinen Anspruch auf die kunsthistorische Kanonisierung des Neoismus unter Homes Namen. Daher versteht sich dieser Selbsthype als hegemoniale Intervention in das kunsthistorische Feld, die nicht der behaupteten Logik oder Ethik des Neoismus folgt - eine hegemoniale Intervention, ein langfristig ausgerichteter Trick

(eine hegemoniale Anstrengung ist in gewisser Weise der Versuch der Überführung von Taktiken in Strategien). Das Manifest der »Generation Positive« ist in diesem Sinne wirklich die »manifeste« Wahrheit der Hegemonialpolitik Stewart Homes - im Gewand schwachsinniger Forderungen.


Es gibt aber eben noch die andere, die anti-essentialistische Logik:

Der Neoismus ist - da durch die postmoderne Erfahrung gegangen - der Sonderfall einer Avantgarde, die nicht weiß, wo vorne ist, und doch nicht vom Vorne, vom Neuen als universellen Horizont läßt. Der in seiner amerikanischen Herkunft ursprünglich als Parodie auf immer-fortschreitende Avantgardismen gedachte Begriff Neoismus, ist von Home vollkommen ernsthaft »beim Wort genommen worden«: Neoismus bezeichnet das Neue als leeren universellen Horizont, der nur existiert, insofern das Alte ständig scheitert, was in dem populären Kalauer zum Ausdruck kommt, daß »die Vergangenheit auch nicht mehr das ist, was sie einmal war«. Oder um eine Laclausche Übersetzung dieses Kalauers anzufertigen, »daß das Universelle Teil meiner Identität ist, insofern ich von einem konstitutiven Mangel erfüllt bin, das heißt, insofern meine differentielle Identität in ihrem Konstitutionsprozeß gescheitert ist« (Laclau 1994, 293).




Der General-Kunst-Streik


»We assert that all art is propaganda« (Home 1991a, 6)



Neben der Größenwahnpolitik und der diese teils supplementierenden, teils mit ihr konfligierenden Multiple-Politik existiert noch eine dritte neoistische Strategie - nämlich die Konstruktion eines kollektiven Mythos. Wieder knüpft sie an die Frage an, wie divergierende Positionen hegemonial vereinheitlicht werden können.


Auch die Idee eines Kunststreiks war natürlich geklaut[9]. Ausdrückliches Ziel des in der Tradition der Anti-Art stehenden Art Strikes war es nach Home, den Klassenkampf in die Kunstwelt zu tragen. Und tatsächlich scheinen sich ab 1988 Art Strike Action Committees in England, Irland, Deutschland und den Staaten gegründet zu haben, die auch alle möglichen Propagandatätigkeiten entfalteten; wirklich dann in Streik getreten dürften aber nur Stewart Home, Tony Lowes und John Berndt sein. Der Rest der Kunstwelt bestand, wie nicht anders zu erwarten war, aus Streikbrechern. Und doch erwies sich die Idee als äußerst ansteckend, wie Sadie Plant berichtet, wurde unter dem multiple name Karen Eliot zB. ein Thought Strike ausgerufen für den Zeitraum vom Januar '91 bis September '94. Alle Theoretiker wurden dabei aufgefordert, Cola auf ihre word processors zu schütten und mit dem Denken aufzuhören.


Aber warum gerade ein Streik? Was Home fordert ist ja nicht einfach ein Streik, sondern ein Generalstreik im Kunstfeld. Diese Operation entspricht der Etablierung eines Mythos, oder - mit einer Kontraktion von Kant und Sorel - eines regulativen Mythos. Ein Mythos im Laclauschen Sinn ist ein leerer Universalismus, der motivierend gerade aufgrund seiner bestimmten Unbestimmtheit wirkt. D.h. ein Mythos wie »Generalstreik« ist, wo er umfassend wirkt, letztlich wiederum ein leerer Signifikant. Dabei ist es unerheblich, ob es je zu diesem Streik kommen wird, also ob der leere Signifikant sein Signifikat findet. Die Homogenisierungsleistung des »Generalstreiks« (auch »proletarischen Streiks«) ist rein symbolisch.


Laclau: »während der politische Streik auf konkrete Reformen zielt, die ein Machtsystem auswechseln und dabei eine neue Macht errichten, zielt der proletarische Streik auf die Zerstörung der Macht an sich, der eigentlichen Form der Macht, und hat in diesem Sinn kein bestimmtes partikulares Ziel.« (Laclau 1994, 296)


Wenn wir diese Laclau-Benjaminsche Interpretation Sorels (der Generalstreik ziele auf die Abschaffung von Macht an sich) auf den Kunststreik umlegen, dann zielt dieser ganz klassisch avantgardistisch auf die Zerstörung von Kunst an sich. Das Problem liegt darin, daß diese Idee einer »Abschaffung an sich« zwar notwendiges Regulativ emanzipatorischer Politik sein mag, gleichzeitig wir aber wissen, daß man Macht genausowenig wie Kunst endgültig abschaffen kann. So begrüßenswert beides wäre. Aber auf die Verwirklichung dieses letzten Schritts kommt es gar nicht an.


Denn wie Sadie Plant richtig anmerkt, geht es beim Art Strike weniger um den Streik selbst als um die ihm vorausgehende Propaganda: »The only value of the art strike lay in its proposal of silence, rather than silence itself; tha propaganda rather than the deed« (Plant 1992, 180). Dieser Akzent auf der begleitenden Mobilisierung und weniger auf dem Ankommen erklärt auch, warum alle Kritiken von Seiten der Künstler selber, und die gab es massenhaft, so seltsam ins Leere gelaufen sind. Zuallererst ist es schon verwunderlich, daß die triviale Kritik[10], der Streik würde ja sowieso nicht funktionieren und wäre deshalb sinnlos, überhaupt angebracht wurde. Offensichtlich wiedermal eine völlig instrumentalistische Vorstellung vom »Funktionieren«: nur was zur sofortigen unmittelbaren und vollständigen Verwirklichung aller Forderungen führt, hat funktioniert. Die Methode der »ridiculous demands« - sei es die Forderung nach der Krone für Stewart Home, sei es ein dreijähriger Kunststreik - muß aus dieser Perspektive wohl tatsächlich »ridiculous« scheinen. Sie ist aber bewußt eingesetzt als populare Politik, die durch den Postmodernismus möglich geworden ist. So heißt es in einem der unzähligen Manifeste:


»The historical task of the Neoist Conspiracy is to create a rupture in the development of post-modernism and to thrust a revolutionary popularism into this breach.« (Home 1991a, 19)


Damit verknüpft Home die Idee des Streiks mit einem populistischen Projekt, was allein ihn schon in die Nähe Sorels rückt. Aber auf welchem Terrain soll dieser revolutionäre Populismus erzeugt werden?


"This popularism is to be achieved by manipulating the mystification process involved in the manifacture and marketing of art.

This process of manipulating will consist of a series of ridiculous demands made on behalf of the Neoist Cultural Conspiracy." (Home 1991a, 19)

Dieses Zitat ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Es geht Home darum, innerhalb der Postmoderne in die Postmoderne eine Bresche zu schlagen und im Anschluß diesen Bruch im Postmodernismus mit einem revolutionären Popularismus/Populismus aufzufüllen - also mit etwas klassisch Modernem. Das soll erreicht weden durch eine Reartikulation des Mystifikationsprozesses von Kunst über eine Politik der lächerlichen Forderungen: eine davon ist der art strike. Mit dem Begriff Bruch schließt sich die Forderung an die klassische Idee von Avantgarde als Unterbrechung an. Gleichzeitig weiß Home aber, daß der radikale Bruch nicht zu machen ist. Vielmehr dürfte es ihm um eine Modernisierung der Postmoderne[11] gehen. Nichts anderes meint letztlich »Neoismus« (von Home ja auch manchmal bezeichnet als »Retro-Futurismus«) als Moderne unter den Bedingungen der Postmoderne.


Homes Vorschlag eines Populistischen Bruchs korreliert also einer hegemonialen Verdichtung der diffusen Konjunktur der Postmoderne. Denselben Vorgang hat Laclau unter den Begriff »Populare Bruch« gefaßt. Gemeint sind Revolutionen und Systemwechsel. Voraussetzung dafür ist eine weitgehende Homogenisierung des symbolischen Raums um einen einzigen Antagonismus. Laclau hat eine vollständig antagonisierte Gesellschaft mal so beschrieben: Du fragst jemand um die Uhrzeit, und er haut dir in die Fresse (das zeigt schon, daß eine vollständige Antagonisierung so gut wie unmöglich ist).


Wir könnten diese weitgehenden Homogenisierung des politischen Felds auch eine modernistische Form von Politik nennen. Diese modernistische Form von Politik hat einen ganzen Kanon ästhetisch-rhetorischer Pathosformeln im Schlepptau, die in post-modernistischen Politiken antiquiert erscheinen. Es ist nicht nur die hegemoniale nationale, völkische oder Klassen-Einheit, welche über pathetische Riten beschworen werden soll, auch aus der Sicht der jeweiligen Revolutionäre ist das Feld antagonisiert. Wenn Revolutionen - von der französischen über die russische bis zur kubanischen - gelingen, dann weil sie das Feld erfolgreich symbolisch in zwei Lager geteilt haben - und damit homogenisiert haben. Dieser populare Bruch ist ein Sonderfall einer üblicherweise eher dispergenten Antagonisierung, einer Vielzahl von Antagonismen auf verschiedenen Ebenen, die (noch) nicht miteinander gekoppelt sind (sich zueinander also als Differenzen verhalten und nicht als Äquivalenzen). Der Prozeß der Homogenisierung/Blockbildung - der Koppelung dieser Antagonismen - läuft über die Äquivalenzierung divergenter politischer Forderungen zu einer Kette: der Titel für diesen Prozeß ist Hegemonie. Was auch erklärt, warum Stewart Home seine Forderungen »ridiculous« nennen muß. »Ridiculous« sind sie, weil modernistische Pathos-Politik in einer vorrangig postmodernistischen Konjunktur aus deren Sicht natürlich immer lächerlich wirkt.


Und nachdem er sich ausreichend lächerlich gemacht hatte, um berühmt zu werden, verließ Stewart Home den Neoismus wieder in Richtung Literatur und Subkultur. Und so ist jener Satz von ihm überliefert, dem man wohl als einem der wenigen Sätze aus der Homeschen Formulierküche uneingeschränkt zustimmen kann:


»To leave Neoism is to realise it.« (Home 1991a, 31)




















Literatur:



The Angry Brigade (1985): The Angry Brigade 1967-1984. Documents and Chronology, London


Stewart Home (1991a): Neoist Manifestos, Sterling


Stewart Home (1991b): The Art Strike Papers, in: Home (1991a), Sterling


Stewart Home (1991c): The Assault on Culture. Utopian currents from Lettrisme to Class War, Sterling


Stewart Home (1995): Neoism, Plagiarism & Praxis, Edinburgh & San Francisco


Ernesto Laclau (1981): Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus - Faschismus - Populismus, Berlin


Ernesto Laclau (1990): New Reflections on the Revolution of Our Time, London/New York


Ernesto Laclau (1994): Universalismus, Partikularismus und die Frage der Identität, in: Mesotes 3/1994, 287-399


Sadie Plant (1992): The Most Radical Gesture, London


Slavoj Zizek (1993): Grimassen des Realen. Jacques Lacan oder die Monstrosität des Aktes, Köln





Adressen:



Association of Autonomous Astronauts: Sektion London Inner City: BM Jed, London, WC1N 3XX, Sektion East London: Box 15, 138 Kingsland High St. London, E8 2NS, Sektion South London: 121 Railton Rd., Brixton, SL, Sektion North: PO Box TR42, Leeds, LS12 3XP, Sektion Raido (Ad Astra! newsletter): BM Box 3641, London, WC1N 3XX, Sektion Glasgow: PO Box 1238, Glasgow, G12 8AB, Associazione Astronauti Autonomi Sezione di Bologna: c/o Link Project, via Fioravanti 14, 40129 Bologna, It.


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Fatuous Print Creations, The Invisible College, praxis, TechNet und alien

underground: BM Jed, London, WC1N 3XX


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[1]Leider hat die K Foundation mit einem Ad im Guardian verlautbart, daß sie ab dem 5. November 1995 ihre Aktivitäten für einen Zeitraum von 23 Jahren einstellen wird. Diese Kunstpause soll der Welt Zeit geben, ihre letzte Aktion, die Verbrennung von zwanzigtausend 50-Pfund-Noten, ausreichend zu würdigen.
[2]Über tENTATIVELY a cONVENIENCE besteht aber auch hier eine Verbindung der Church zum Neoismus. Genauso würdigt Home die Anti-Kunst-Aktionen der K Foundation aufgrund ihrer großen Ähnlichkeit mit dem neoistischen Art Strike.

[3]In Montreal angeblich vor allem um einen Menschen namens Istvan Kantor, weitere mit den verschiedenen Phasen des Neoismus in Zusammenhang gebrachte lebende Personen sind u.a. David Zack, Al Ackerman, Kiki Bonbon (Jean-Luc Bonspeil), tENTATIVELY a cONVENIENCE (alias Tim Ore alias Michael Tolson), R.U. Sevol (Michael Ferara), Pete Horobin, Stiletto, Graf Haufen, Peter Below, John Berndt. Eine ausführlichere Liste findet sich in (Home, 1991c).

[4]Ernesto Laclau folgend verstehen wir unter Praxen einfach diskursive Artikulationsformen jenseits jeder Diskurs/Praxis oder Sprach/Welt-Dichotomie. Unter Sedimente verstehen wir Praxen, die durch ihre stete Wiederholung in ihrer notwendigen Reproduktionsdimension nicht mehr als kontingent erkennbar sind, wie Traditionen, Riten, Codices, Institutionalisierungen. Unter Reaktualisierung verstehen wir Praxen der Unterbrechung dieser Wiederholung, der (hegemonialen) Intervention, mit dem Ergebnis einer Verschiebung der Sedimente, die für einen bestimmten Moment nun nicht mehr als »notwendig«, sondern als so kontingent erscheinen, wie sie es sind.

[5]Home beschreibt ebenfalls diesen Vorgang der Kanonisierung durch Wiederholung: »Through repetition, the spontaneous gestures of the futurists have been transformed into acts of ritual. Rather than signifying revolt, they now constitute an avant-garde tradition.« (Home 1991a, 11)

[6]Die Arbeit der Selbst-Vertextung, die von den frühen Neoisten nicht wahrgenommen wurde, ist geradezu notwendige Bedingung für den Avantgardestatus. Wo sie vernachlässigt wird, besteht die Gefahr, daß Avantgarde wieder zur Subkultur abrutscht: »the Neoists were in danger of losing their avant-garde identity and becoming just another part of the underground« (Home 1995, 170). Home unterscheidet sogar zwischen eher zur Avantgarde und eher zum Underground orientierten Bewegungen: »As well as possessing a greater critical rigour, the avant-garde collects together in smaller and more exclusive groups than the loosely structured underground. The SI clearly constituted an avant-garde movement - as did the various tendencies which fed into it. Fluxus began its life as an avant-garde movement bur degenerated into an underground current. The Dutch Provos, Motherfuckers, King Mob, Yippies, Mail Artists, Punks and Class War exhibit an underground rather than an avant-garde mentality. Neoism was self-consciously avant-garde« (Home 1995, 194).

[7]Weitere schöne Zitate dazu: »The AB is the man or woman sitting next to you. They have guns in their pockets and anger in their minds.« (32) oder: »Now we are too many to know each other. (...) We are not in a position to say whether any one person is or isn't a member of the Brigade. All we say is: the Brigade is everywhere. Without any Central Comittee and no hierarchy to classify our members, we can only know strange faces as friends through their actions.«(37)

[8] Laclau dazu: »Die Avantagardepartei als konkrete Partikularität mußte das Wissen um die 'objektive Bedeutung' jedes Ereignisses in Anspruch nehmen, und der Anspruch der anderen partikularen sozialen Kräfte mußte als falsches Bewußtsein zurückgewiesen werden.«(291)

[9]1970 forderte etwa eine Reihe Aktivisten der New Yorker Kunstszene unter dem Namen The New York Art Strike Against War, Repression and Racism die Museen und Gallerien auf, für den Zeitraum von einem Tag bis zu zwei Wochen zu schließen. Die Vorlage, auf die sich Home hauptsächlich bezieht, ist der Aufruf zum Art Strike von 1977 bis 1980 durch Gustav Metzger. Metzgers noch radikalere Idee beinhaltete sogar, daß Künstler, die ihre Kreativität nicht beherrschen können, in Lager gesteckt werden, wo die Werke die sie absondern, sofort zerstört werden.

[10]Beispiele dafür fanden sich schon 1997 in den Reaktionen auf Goran Dordevic' Kunststreik-Propaganda. Ein Beispiel für triviale Kritik ist dabei Hans Haacke, der der Ansicht war, ein Art Strike wäre weder effizient noch sensibel, und der darüberhinaus für die Injektion kritischer Kunst in den Kunstmarkt plädierte. Daniel Burens Reaktion zeugte dagegen von Weisheit und Einsicht: »Personally I am already on strike of producing any new form in my work since 1965 - (i.e. 14 years). I don't see what I could do more« (zit. in Home 1991b, 51).

[11]Wenn wir unter »moderner« (und gleichzeitig modernistischer) Politik keine historische Periode, sondern die Homogenisierung von Ensembles um einen popularen Bruch verstehen, dann ist Hegemonisierung in diesem Sinn gleichbedeutend mit Modernisierung.



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