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wuming schrieb am 15.7. 2007 um 00:21:49 Uhr über

neoismus



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Inhaltsübersicht

»Gimmie dat ole time religion«
Martin Büsser über Revivals, Coverversionen und den Retroboom in den 90ern

Pop-Geschichte wird gemacht
Günther Jacob über die die mediale Manipulation der Popgeschichte

Wer langsam fährt, wird schneller alt: Die Goldenen Zitronen
Ein Portrait darüber, wie Zitate durchaus zeitgemäß rüberkommen können

Progressivrock als zeitlose Unmode
Roger Behrens geht der Frage nach, warum Art- und Progressiv-Rock kein Revival erfahren

Lichtrasse und Wälsungenblut
Neurechte Tendenzen im Apocalyptic Folk. Martin Büsser über rechte und eurozentristische Machenschaften in Dark Wave und Post-Industrial.

»Dropping da bomp«
Die Rolle des Sampling im HipHop

Rap-Remix
Richard Shusterman über die politische Bedeutung des Samplings

Those who know history are doomed to repeat it
Jochen Kleinhenz über die Leidenschaft des Zitats im Leben eines DJ's

Gibt es ein Zurück?
Rigobert Dittmann über Manierismus in den 90ern

Der schöne Kapitalismus
Peter Thomas (»Raumpatroille Orion«) stellt sich vor und erklärt, warum er heute beliebter ist als je zuvor

Einsturz auf Raten: Die Einstürzenden Neubauten
Johannes Ullmaier über den Verfall einer Band, die sich immer stärker in Richtung Hochkultur entwickelt hat und gerade dadurch belanglos statt »ernster« wurde

Verhüllung ist interessanter: Trans Am
Martin Büsser im Gespräch mit einer Band, die zu den wichtigsten Vertretern des sogenannten Post-Rock gezählt werden muß

Zum Avantgardismus des Nostalgischen bei den Residents

Alle Spuren führen zu Webern
Joachim Ody über Zitate und Traditionalismus in der Neuen Musik

Retro als Subversion: Anthony Braxton
Ein Musikerportrait von Felix Klopotek

Kino, Jugend und Gewalt
Georg Seeßlen über die Konstruktion von Jugend im Film

Authentizität, Nostalgie und Künstlichkeit im Jugendfilm
Frank Hofmann über die Tradition von Rebellen- und Musikfilmen

Dekadenz und Tod
Sexualisierung des Nationalsozialismus im Kino

Eiszeit: Anmerkungen zu »Mainstream der Minderheiten«
Von Günther Jacob

Restaurative Universalpoesie
Reaktionäre Tendenzen im Werk von Botho Strauß.

Ewige Wiederkäu des Gleichen: Retro-Food
Über die Rückkehr von Produkten wie »Brauner Bär« und »Curlywurly«.

Neo-dadaistischer Retro-Futurismus
Oliver Marchart über Stewart Home, The KLF und die Neoismus-Bewegung.

Tonträger- und Buchrezensionen testcard
Beiträge zur Popgeschichte

Nummer 4: Retrophänomene in den 90ern

316 Seiten
ISBN 3-931555-03-8
14,32 Euro
Bezugsquellen



Editorial

»Aber Retro kann niemals Vorwurf sein! Retro ist ein Bekenntnis. Retro ist eine Lebensart, eine Kulturstufe, eine Verpflichtungweiter nichts! Retro ist Religion!!« (Aus dem Presseinfo der Firma Rebel Rec./ SPV, Februar 1997, zur CD der Retro-Rocker MOTHER SUPERIOUR, deren Musik man sich in etwa so vorstellen muß wie diese Zeilen, die dazu beitragen sollten, auf sie aufmerksam zu machen)

Zurück in die Zukunft - oder geradewegs in die Stagnation? - Der Titel »Retrophänomene in den Neunzigern« könnte vermuten lassen, daß vorliegende Testcard-Ausgabe sich daran abmüht, Killing Me Softly- und No Woman, No Cry-Remakes, Kiss-Masken, die Wiederkehr von SUPERTRAMP u.ä. mühselig zu beleuchten und mit einer satten Discographie (sämtliche SMOKIE-Bootlegs, sämtliche Versionen von Summer In The City) zu untermauern. Wäre das besonders spannend? - Eigentlich nicht. Von dieser allgemeinen, planen Rückgewandtheit weiß ja nun wirklich jeder; und es bedürfte keiner allzu großen Geistesblitze, um anhand des Klangmülls von den FUGEES bis zu Dieter Thomas Kuhn eine kulturpessimistische Untergangsstimmung abzuspulen oder - wahlweise - das Zitatenpitching der post- und popmodernen Epoche als neu gewonnene Freiheit zu feiern. All diese Phänomene und ihre mögliche Rezeption finden sich in Martin Büssers Einleitung angesprochen - und dabei wollten wir es auch belassen.

Die hier versammelten Artikel zeigen vielmehr, welch verschiedene Arten des Rückbezuges im Popkontext möglich sind, beginnend bei den Musikern und nicht zuletzt endend bei uns Autoren, deren Theorieansätze selbst zu einer Historisierung beitragen können. »Beiträge zur Popgeschichte«, der Untertitel unserer Reihe, hat bereits einige auf den Verdacht gebracht, zwischen den beiden Deckeln fände eine Kanonisierung des historischen Materials statt, auf daß die eigene Plattensammlung aufgewertet und das, was wir schon lange suchen, neu aufgelegt wird.

Um sich einer solchen Gefahr bewußt zu werden und ihr zu entgehen, treten wir die Beschäftigung mit dem Retro in dieser Nummer auch auf selbstreflexiver Ebene an, so etwa in den Texten von Günther Jacob und Richard Shusterman. Poptheorie, die sich weder einer akademisch verwertbaren Skala von künstlerischen Niveaus noch einer mit Plattenfirmen kooperierenden Hipness verschreiben will (oft dienen diejenigen, die beides negieren würden, genau diesen beiden Zielen), bedarf einer Vorsicht, die sprichwörtlich etwas zu tun hat mit der Schnecke auf ihrem Gang über die Rasierklinge: Testcard bewegt sich eher vorsichtig nach vorne, da wir uns der Jargons bewußt sind, mit denen Schreiber hierzulande nicht nur sich, sondern auch die Musik unters Messer liefern. Jacob und Shusterman können diesbezüglich nur andeuten, welchem diskursiven Ballast all jene ausgeliefert sind, die nicht nur über Retro schreiben wollen, sondern die so zu schreiben sich bemühen, daß sie selbst nicht retro, also in keine bereits etabliert schematisierende Schule einzuordnen sind. Rigobert Dittmann schlägt schließlich in seinem Text vor, Retro einmal weder an Postmoderne vs. Moderne noch an Kulturindustrie-Überlegungen festzumachen, sondern am fortdauernden Widerstreit zwischen Klassizismus und Manierismus.

Mit Artikeln über das PETER THOMAS SOUNDORCHESTER und das Food Revival (Stichwort: Brauner Bär) wurden spezielle Interessen abgedeckt (Kunst, Camp oder auch wieder nur kapitalistische Strategie?) und von unserer Seite her berücksichtigt, daß so manche Testcard-Nummer als Sommerlektüre am Baggersee in den Korb gepackt wird - doch die Beschäftigung mit dem Retro kann auch ernster sein als der Begriff vermuten läßt. Dies ist zum Beispiel der Fall, wo Rückgriffe sich rechter Symbole und Denkmodelle bedienen, hier exemplarisch aufgearbeitet in einem Text von Stefan Willer über Botho Strauß (einmal nicht reduziert auf seinen »Anschwellenden Bocksgesang«, sondern mit Blick auf sein Prosawerk) und von Martin Büsser über den »Apocalyptic Folk« von Gruppen wie DEATH IN JUNE und SOL INVICTUS.

Johannes Ullmaier zeigt in seinem Artikel »Einsturz auf Raten«, wie die einst als progressiv gehandelten EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN durch ihren Aufstieg in die sogenannte Hochkultur zugleich einen Rückschritt vollzogen; anders hingegen die GOLDENEN ZITRONEN, deren eigene Form von Progressivität am Wave der frühen Achtziger anknüpft, ohne dessen Kopie zu werden. Dies behauptet zumindest der Text eines gewissen Thomas Anders, dessen Fragment-Sammlung auch allgemeine Gedanken zum strapazierten Begriff des Progressiven liefert. Mit dem namentlichen Progressivrock - z.B. YES, GENESIS - beschäftigt sich Roger Behrens, der zum einen zeigt, wie stark Prog-Rock am Virtuosenbegriff des 19. Jahrhunderts anknüpft (und damit Prog nur via Retro sein kann) und der zum anderen anhand heutiger Popdiskurse erklärt, weshalb es bislang zu keinem breit rezipierten Revival dieser Gattung hat kommen können.

Aneignung und Verarbeitung von geschichtlichem Wissen muß nicht regressiv sein - das zeigt ein Großteil der Beiträge, etwa dort, wo sie Sampling im Hip Hop (Andreas Rauscher) und House (Jochen Kleinhenz) behandeln, Rock-Demontage bei TRANS AM oder (historisch einen Schritt zurück) die Verarbeitung von Musikgeschichte bei den RESIDENTS (Sigmar Berrisch) und das Traditionsdenken im Free Jazz (Felix Klopothek). Joachim Ody skizziert schließlich eine Geschichte der Neuen Musik, die nicht nur von ständigen Rückbezügen, sondern auch von ständigen Wiederentdeckungen geprägt ist.

Georg Seeßlen und Frank Hofmann betrachten sich Nostalgie bzw. Erzeugung typisierter Jugendbilder im Film, Marcus Stiglegger arbeitet eine ebenso kuriose wie heikle Form des Retros auf, nämlich die Darstellung des Faschismus in den (vorwiegend) italienischen Sexploitation-Filmen der 70er Jahre.

Und beinahe schon am Ende angelangt, zeigt ein umfangreicher Rezensionsteil, daß Geschichte noch immer gemacht und nicht nur wiederholt wird - die Anzahl der von uns besprochenen Reissues ist im Vergleich zu all den Neuerscheinungen, die uns eine Besprechung wert waren, doch sehr gering.

Ziel dieser wieder einmal sehr breit gefächerten Ausgabe war nicht, ein auf Popgeschichte anwendbares Evolutionsmodell zu entwickeln, das Retro gegenüber ständigem Fortschritt um jeden Preis verurteilt und Geschichte mit dem »Avantgarde«-Stempel einteilt, sondern wir versuchten zu differenzieren und zu zeigen, daß Zitate und Rückblicke gerade fruchtbar sind, wo über sie Gegenwart bestimmt, nicht aber Vergangenheit erträumt wird.

Abschließend bitten wir noch einmal, unsere neue Adresse seit Januar 1997 zu beachten, bei der Testcard jederzeit bestellt werden kann (Ausgaben von # 3 und einige wenige von # 2 sind auch noch auf Lager). Grundsätzlich sollte Testcard auch über den Buchhandel erhältlich sein, doch immer wieder gibt es Buchhändler, die sich mit lakonischem »Gibt es nichteinen allzu tiefen Blick in den Computer ersparen wollen. Support your local dealer - also, im Notfall: Bestellung direkt bei uns.





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